Der angenehm durchwachsene Sommer in Berlin zeigt sich luftig – zum einen hinsichtlich allerhand bewegter Luftmassen, zum anderen in Gestalt von Bürgersteigen ohne hohes Verkehrsaufkommen und breiten Hauptverkehrsstraßen, die sich auch abseits von Ampeln gut überqueren lassen. Die Bewohner der Stadt haben das Weite gesucht, das in diesem Jahr nicht ganz so weit ausfallen darf, und die Besucherscharen aus jeder Art von Übersee müssen sich zum großen Teil in Geduld üben und ihre Pläne eher auf das nächste oder übernächste Jahr vertagen.
Den Hiergebliebenen geht es da ähnlich zwiespältig wie den Syltern, Venezianern oder anderen Stammbewohnern einschlägiger Touristen-Hochburgen – einerseits ist es einmalig und friedenstiftend, den eigenen Heimatort mal halbwegs ohne Gedrängel selbst neu entdecken zu können, andererseits natürlich bedrückend, wenn man an alles denkt, was den Bach runtergegangen ist oder längerfristig die Nachfolgen nicht überdauern wird. Ein menschenleerer Platz zwischen Adlon und Brandenburger Tor oder eine lose gefüllte Straßenbahn M 10 in der Nacht von Freitag zu Sonnabend, ein Berghain ohne Schlange – faszinierend und gleichermaßen unheimlich.
Wer also seine geplante Langreise an Karibikstrände, bunte Kulturschmelztiegel oder Orte mit markigem Abenteuer-Aroma nicht antreten konnte, dem werden in diesem Wochen in den meisten Printmedien inländische Ziele und Aktivitäten schmackhaft gemacht. Für die meisten Leute sind die meisten davon mit einem altbackenen Geschmack im Antwortsatz auf die Urlaubsfrage verbunden, der ja für viele auch einiges Imagegewicht trägt.
Doch nun bietet sich eine seltene Gelegenheit, der Berechtigung dieses Geschmacks auf den Grund zu gehen, ohne ein mitleidiges Nick-Lächeln des auftrumpfenden Gegenübers zu riskieren. So tauschen zwei radelnde Duracell-Häschen die Tour längs über die britische Hauptinsel ein gegen eine mehrwöchige Reise vom allernördlichsten Punkt Deutschlands zum allersüdlichsten – vom Sylter Nordstrand zum Haldenwanger Eck bei Oberstdorf oder von Null auf Tausendneunhundert – und ernten reichlich Soci-Medi-Grinsedaumen. Ein bahnfahrender Eurotrotter schmeißt seine geplanten Schwedenwochen zugunsten des zauberhaften und langen Albsteigs über Bord und eine Liebhaberin von Mittelmeerinseln birgt mal wieder ein paar lange nicht besuchte Kleinode Brandenburgs, schlendert durch fränkisches Fachwerk oder erklimmt die Berliner Hütte im Zillertal.
Wer ohnehin gern innerhalb der Landesgrenzen bleibt und seit jeher Spaß daran hat, die Vielfalt zwischen den kleinsten Gesteinsbrocken des Strandsands und den größten in den Gipfeln der Alpen zu entdecken, wird in diesem Jahr staunen, wenn hier und da etwas mehr Betrieb herrscht oder man im Biergarten fümmunneunzig Sekunden länger auf sein kühles Getränk warten muss.
Untern den erwähnten Kleinodien in Brandenburg gibt es einige mit dem Anspruch auf Einzigartigkeit, im Gegenzug wird manchmal eine weitere Anreise fällig. Die muss im Falle guter Verbindungen zeitlich nicht länger ausfallen als solche zu gängigen Zielen wie Neuruppin oder dem Spreewald. Nach Neuzelle zum Beispiel braucht die Bahn vom Ostkreuz nicht mal anderthalb Stunden, und selbst von Prenzlau oder Wittenberge aus sind es tagesausflugstaugliche vier Stunden – wenn man halbwegs gerne auf der Schiene sitzt.
Neuzelle
Die Einzigartigkeit in Neuzelle liegt vor allem und unbestritten in der bayrisch prächtigen Klosterkirche mit all ihren Anlagen, die am Rand des platten Oderlandes steht, direkt unterhalb der kleinen, doch ausgeprägten Höhenzüge, welche den überschaubaren Ort durchziehen und umgeben. Über die Pracht und Schönheit der barocken Kirche lässt sich an zahlreichen Stellen nachlesen und über Bilder staunen. Auch der Kreuzgang, die in Stufen angelegte Parkanlage und alle sonstigen Gebäude des Klosters stehen dem kaum nach.
Am erhebendsten ist es, sich der Silhouette des Ortes von der Oder kommend zu nähern, wo die zahlreichen Türme zunächst dunstig in der Ferne liegen, kaum greifbar und eher einer Erscheinung gleichend. Nach und nach schärft sich der Kontrast, treten Details und Konturen hervor und werden mit jedem Steinwurf des Näherkommens konkreter. Das hinzubekommen soll an diesem Tag seinen Preis haben. Doch wird am Ende keine Frage stehen, ob es das wert war.
Wer nicht gleich zur Sache kommen muss und sich den Höhepunkt des Tages fast schon schmerzhaft bis zum Ende aufbewahren möchte, kann der beschriebenen Spur folgen. Vom Bahnhof sind es keine fünf Minuten, bis ein kleiner Bergweg erste Höhenmeter abfordert, die jedoch werden gleich darauf mit einem Blick auf die Klosterkirche und einen begrünten Höhenzug belohnt. Das war‘s dann auch fürs Erste. Durch schattigen Wald ziehen sich Pfade über den Priorsberg, vorbei an einer Sportanlage mit zeitweiligem Ausschank, wenig später am Denkmal für eine Berliner Frauenrechtlerin.
Winzige Pfadpassagen wechseln mit braven Wohnstraßen, bevor an einem großen Stall ein schnurgerader Feldweg beginnt, thematisch unterstrichen von würziger Landluft. Hinterm Wäldchen ragen aus dem niedrigen Korn vier aufrechte Ohren, zeigen sich für eine Sekunde zwei jugendliche Rehköpfe mit ihren schwarzen Augen. In der nächsten Sekunde liegen zwei beherzte Sprünge aus dem Stand und in der folgenden dann das urplötzliche Verschwinden, wie das so nur Rehe hinbekommen. Keine Ähre wackelt, nichts raschelt.
Hinter einer morschen Scheune liegt leicht abfallend eine struppige Wiese, die auf den ersten Blick nichts Besonderes hat. Doch bald stocken die Schritte, ob der Farbenpracht, die es mit der einer Bergwiese gut aufnehmen kann. Zugleich angelegt und wild sieht diese Fläche aus, die nicht viel größer ist als hundert Meter im Quadrat. Auf dem kargen Boden drängelt sich eine Blumenvielfalt, die wiederum eine ebenso große Vielfalt von Insekten anlockt. Hatte man bisher das Gefühl, es gäbe weniger Schmetterlinge als in den letzten Sommern, wird das hier geradegerückt. Zwischen all den Bienen und Hummeln tummeln sich auch winzige und größere Käfer sowie Fliegen der eleganten Sorte, teils in schillernden Metallic-Farben, als kämen sie gerade aus der Lackiererei. Oder hätten sich in altertümliches Bonbon-Papier gekleidet.
Doch für das größte Staunen sorgt zum einen die herrlich große Menge von Schmetterlingen, mehr aber noch die selten gesehene Mannigfaltigkeit der scheinbar planlosen Flügelschläger. Große und kleine, klassisch geformte und eher sportlich schlichte – und dann die Farben, die Muster, die Kontrast-Varianten! Einem Schmetterologen dürfte sich hier das Herz weiten, und auch Fotografen solcher Materie dürften stark ins Schwärmen, vor allem aber ins Knien kommen. Unsere diesbezügliche Ausstattung ist vergleichsweise kindlich, doch wir nehmen mit, was geht.
Nach diesem genüsslichen Nichtvorankommen folgt ein kurzer Abstieg. Die Blütenvielfalt weicht hier purer Blütenfülle in violett, die Sechsbeinigen werden nicht weniger. Unten an der Kapelle müssen wir erstmal wieder auf den Teppich kommen und nutzen das schattenspendende Vordach für eine erste Rast. Das schützt für die Länge des Verzehrs auch vor weniger niedlichen und nervig sirrenden Sechsbeinern, die uns frisch entdeckt haben, doch scheinbar eine gewisse Ehrfurcht vor dem Gottesdach hegen, zumindest fünf Minuten lang. Dann jedoch fällt jeder Anstand, und wir haben schlichtweg zu wenig Arme, um die Dürstenden auf Abstand zu halten. Also weiter.
Kummro
Wie so oft an der imposant durchwirkten Geländekante am Rand des platten Oderlandes nehmen jetzt die Vergleiche zu höheren Bergregionen ihren Lauf, Stammleser dürften das aus früheren Beiträgen kennen. So erweist sich auch das schöne Kummro der Gebirgskulisse würdig, mit steilen Hängen, bunten Blumenwiesen und dem kleinen platten Talgrund. Viele Grundstücke unterhalb des Hanges haben mehrere Etagen, die je nach Kontostand mehr oder weniger gestalterisch ausgelebt werden. Wobei sich zeigt, dass kostspielige Details oftmals weniger zur gemütlichen Landlust-Illustration taugen, sondern eher die mit Patinacharakter. Der Kenner weiß, dass diese mitunter noch weit teurer kommen.
Neumühle
Jenseits des Dorfbaches, der schmal und lebhaft gen Neuzelle plätschert, beginnt der schattige Weg zur Neumühle. Die liegt schön eingeschmiegt im Bachtal, direkt dahinter spannt sich zwischen den Waldrändern eine weite Wiese voller Gesumm und Geschwirr auf. Ein ufernaher Pfad ist vor lauter Vegetation nicht zu erkennen. Das Verbleiben auf dem breiten Fahrweg schenkt uns im Ausgleich gleich noch eine hinreißende Reh-Episode. Wieder schauen vier Ohren aus den dichten hohen Halmen der fußklammen Uferwiese, doch nicht gleich hoch. Das untere Paar ist kaum zu sehen.
Die Begegnung verläuft sehr ruhig, so als hätten Kitz und Ricke in verbalfreier Verständigung für die Taktik der Unauffälligkeit entschieden. Ein direkter, tiefer Blick zwischen der Alten und uns hält lange an, so einer, dem dann meistens das vorhin erlebte Aufspringen und Enteilen folgt. Doch die beiden bleiben der gewählten Methode treu und entfernen sich langsam Richtung Ufer, wie auf Zehenspitzen mit dem zugehörigen, leicht waalkes’schen Gang. Die Ohren sind noch lange zu sehen.
Neben der Mühle führt ein reizvoller Pfad entlang des Zauns. Am Ende möchte man gern dem Wegweiser zur Schwerzkoer Mühle in den schattigen Weg folgen, der direkt und gefühlt mit nassen Füßen dem Bachlauf folgt. Der tränkt hier viel Waldboden zu schwarzem Modder. Folgerichtig ist da der unmittelbare Venenzugriff dutzender Winzlinge, die scheinbar schon alles Nutzvieh der Umgebung leergesogen haben und ohne jegliches Sondieren zum Stich schreiten.
Gut also, dass es ohnehin der falsche Weg war, im schnellen Rückzug zurück zur Wiese und noch ein paar Wanderer auf den rechten Weg gebracht, auch wenn der mitten durch die Mückentränke führt. Doch sie wollen es so. Bei jedem Storchenschritt durch die hohe Wiese schnibben friedliche Grashüpfer durch die Luft und werfen die Frage auf, wie man in solch einem hochgewachsenen Halmwald überhaupt abspringen kann.
Am Ende einer zugeknöpften Waldsiedlung mit halbherzigen Durchgangshindernissen wird der Wald lichter, und bald öffnet sich die Landschaft. Ein Zaun begrenzt eine weitere Wiesenfläche, wo auch junges Gebäum heranwächst. Hier wird nun das nächste Kapitel an Schmetterlingsfreude aufgeführt, sich dabei halbwegs an den Verlauf des grobmaschigen Zaunes gehalten. Den mitlaufenden Knipsversuchen entgehen die edel Gewandeten dadurch nicht.
Da alle Bilder Gurken werden, genießen wir die Pracht vor Ort und versuchen uns ein paar Muster ins Kurzzeitgedächtnis zu legen, später digital oder analog nachzuschlagen. Diese durchflatterten Blumenwiesen erschaffen gemeinsam mit dem ausdrucksstarken Wolkenhimmel einen sagenhaften Sommertag, dessen zeitweilige Hitze ein gelegentlicher Wind angenehm entschärft.
Hinter dem querenden Fahrweg liegt eine große Wiese, hügelig und mit Aussicht auf baldige Ausblicke. Auf ihr gibt es ein paar Wege, die nicht sichtbar sind und dazu einladen, mit der Euphorie eines freigelassenen Kindes freudenquietschend loszurennen und sich durch die weiten Wogen des Reliefs treiben zu lassen. Zwischendurch beim Rennen die Augen zu schließen oder sich einfach ins stoppelige Gras fallen zu lassen. Um dann nach ein paar Augenblicken mit fest zugekniffenen Augen und Sonnenpunkten unter den Lidern den Hang hinabzurollen oder zweidrei Purzelbäume zu schlagen.
Gleich hier spielt am oberen weichen Rand eines üppig grünen Hanges das dritte Kapitel von farbstarken Blüten und buntem Geflatter in immer neuen Gestalten. Unten im Tal ruht wie in einem Ölschinken über Omas Sofa gemalt Kummro, eingekuschelt in dunkle Waldhänge. Das Relief des Weges bringt uns ganz von allein auf Spur, so wie ein Wassertropfen auf einem gewellten Lotosblatt ganz klar seine Bahn finden würde.
Unten ist nicht ganz klar, ob es ein offizieller Weg für jeden ist. Der zuständige Hofhund stellt lautstark dieselbe Frage, sollte jedoch an seinem Timbre arbeiten. Das folgende Wohngebiet bietet für einige Grundstücke den seltenen Luxus eines eigenen Hausberges, der mit Stiegen, Serpentinenwegen und Hochterrassen für die Abendbank hinreichend zelebriert und gewürdigt wird. Eine abzweigende Straße für eine neue Wohnsiedlung trägt verheißungsvoll den Namen Klosterblick. Das erweist sich als Marketing-Gag und erinnert einmal aufs Neue daran, dass man das Kleingedruckt immer mit der richtigen Brille lesen sollte.
Eine schöne Aussicht zum Spinnberg gibt es trotzdem und dazu gleich mehrere schöne Wege über die Wiesen, die nun hier das vierte Kapitel aufklappen. Wir bleiben auf der Höhe, passieren große Ställe und das wohl bestgestützte Storchennest weit und breit, das ohne Überhänge auskommt. Dementsprechend groß fällt die Besatzung aus, die ohne statische Bedenken da oben rumturnt.
Wenn der bisherige Weg der Zustieg war, kommt dieser jetzt in seine finale Phase, bevor es charakterlich in höhere Regionen geht, wenn auch unterhalb der Baumgrenze. Wer keinen Wert auf Vollständigkeit in der langen Reihe der Gipfel legt, kann gleich jenseits der Straße ins Wegesystem einsteigen, das etwas Interpretationsfreude und Wagemut verlangt. Heute auch etwas Leidensfähigkeit, denn aktuell herrscht eine regelrechte Mückenplage, wie die Zeitung des nächsten Tages auf ihren ersten Seiten verrät. Am besten folgt man an den zahlreichen Abzweigungen grob einer Himmelsrichtung.
Miniaturgebirgslandschaft Fasanenwald
Wir bleiben dem breiten Weg treu bis zum südlichsten aller Gipfel, von dem sich nun endlich der ersehnte Blick auf das Kloster mit allen seinen Accessoires ergibt. Faszinierend und vielleicht einzig diesem waldoffenen Punkt vorbehalten ist, dass der Blick zugleich auf die Kirche aus dem 18. Jahrhundert und den gewaltigen Eisenhüttenstädter Hochofen aus dem 20. Jahrhundert fällt, der dort die Hauptachse des Stadtbildes mitbestimmt. Um den Punkt zu erreichen, muss man sich kurz vor einem Hochstand rechts hinüber zu Wald halten, dabei etwa auf selber Höhe bleiben. Der Pfad ist derzeit nicht sichtbar, der stark ausfallenden Vegetationsperiode geschuldet, denn wir staksen hier mitten durch der Flatterwiesen fünftes Kapitel.
Als wir uns kurz verbeugen und in den dichten Laubwald eintreten, staunen wir und stoßen auf eine kuriose Analogie. Unweit der sozialistischen Planstadt Schwedt, damals wie heute einem wichtigen Industriezentrum in dünn besiedelter Landschaft, gibt es auf polnischer Seite das wildromantische und zauberhafte Tal der Liebe, das hier vor einem Jahr ausgiebig besungen wurde. Starkes Relief auf kleinstem Raum, üppige Natur durchschlungen von einem System von Wegen und Pfaden und erkennbare Spuren einer gezielten Anlage. Dazu die Odernähe und direkt benachbart die flachen Flussweiten. Ein hinreißendes Netz von Pfaden, das zum Verfransen herzlich einlädt.
Nun finden wir hier in Nachbarschaft zu Eisenhüttenstadt, der Planstadt der sozialistischen Planstädte, eine ganz ähnliche Landschaft, wenn auch hier die verspielten fürstlichen Zutaten wie Teiche, Statuen und Ruinchen oder die ganz besonderen Aussichtsplätze fehlen, denn die sind zum Großteil zugewachsen. Doch auch das Tal der Liebe hielt lange Jahrzehnte einen Dornröschenschlaf, und wenn irgendwann der Klostergarten fertig ist, fällt auch in Neuzelle vielleicht jemandem ein, dass man ein paar Säckchen öffentliches Geld dafür verwenden könnte, hier dies und das in Angriff zu nehmen. Am besten Anfang der Dreißiger mal wieder hier vorbeischauen!
Wo nun an und für sich die herrlichen Anstiegspfade und Höhenwege, Rastbänke und betagten Schautafeln zum Genießen und Verweilen einladen, gestaltet sich dieser erste Besuch des Fasanenwaldes zur atemlosen Hatz. Zwischen Mondberg und Kreuzberg, Flaschenberg und Herzberg veranstalten die Mücken mit uns eine milde Form der Treibjagd und holen alles nach, wovon wir im letzten Sommer verschont geblieben waren. An solchen Stellen, wo es ein meterbreiter Sonnenstrahl bis zum Waldboden schafft und eine flirrende Beam-Säule in den Wald stellt, sieht man das ganze Ausmaß, die dichten Wolken lüsterner Rüsselträger in wildem Ritual-Tanz.
Selbst ein Foto zu machen ist schon ein kleines Wagnis, denn das sekundenlange Verharren wird auch hier ohne die Suche nach der besten Einstichstelle genutzt. So bleibt nach hintenraus neben allerhand schlecht verschlossenen Zapfstellen an Beinen und Armen sowie einigen hastig eingefangenen Gedankenbildern die Erkenntnis, hier in besonders feuchten Phasen des Sommers lange Ärmel im Rucksack zu haben – oder mal im Herbst oder Frühling herzukommen, um die Sache in Ruhe zu genießen.
Nach einer guten halben Stunde fuchtelnden Geländelaufes gibt uns der Wald frei, nun wieder unten auf dem Niveau der Wiesenaue, die friesisch flach zwischen Bahn und Oder liegt. Auch am Fahrweg direkt unterhalb des Fasanenwaldes lauern sie noch, doch wir wollen ohnehin hinüber ins offene Land. Doch die Querung der Bahn ist problematisch, denn eine einstige Option, von der noch ein rostiges „Durchfahrt verboten“-Schild erzählt, ist komplett verwachsen.
Da heute in Sachen Leidensfähigkeit gut gestählt, versuchen wir uns irgendwie zum Gleisbett durchzuarbeiten. Auch wenn die Strecke gut einsehbar ist, jede Stunde nur ein Zug vorbeisaust, ist von der Querung grundsätzlich abzuraten – nicht zuletzt deswegen, weil man im weglosen Dornenkraut hervorragend umknicken kann. Außerhalb der Vegetationsperiode sollte es besser sein, doch hier und heute lassen wir es sein und bleiben auf dem bequemen Weg, der die nackten Beine weder sticht noch kratzt noch verknickt.
Mit der Öffnung zur Bahntrasse hin werden die Mücken weniger. Um unseren eingangs erwähnten Wunsch nicht in den Wind zu schießen, planen wir indessen verwegen, uns selbst recht hübsch was vorzumachen. Gucken betont nicht zu allem, was an Türmen oben rausschaut, wenden uns am Ortsrand nach rechts und schwärmen nach dem Überqueren der Schienen mit großen Schritten aus in Richtung Oder, mitten in die weite Wiesenaue. Um ganz draußen wieder umzudrehen und ehrfurchtsvoll dem Kloster zuzustreben. Wer sich hinsichtlich dessen an die Stirn tippt, hat zunächst recht – doch nach hinten raus so gar nicht.
Denn was wir jetzt erleben, ist nicht nur die schönste Art der Annäherung an die Neuzeller Turmlandschaft. Die laufende Phase des Sommers schenkt uns zusammen mit dem Wettergeschehen und landwirtschaftlichen Notwendigkeiten ein Ballett, das sich direkt vor der Kulisse des diesig entfernten Klosters abspielt und mit gar nichts geizt. Für später ist Gewitter angesagt, mit starkem Regen, und auf den Wiesen liegt in langen Bändern das gemähte Heu bereit. Daraus entsteht ein klares Spannungsfeld, was den Blickwinkel des Landwirts betrifft.
Während auf den Wiesen jeweils ein schwergewichtiges Pärchen aus Mähdrescher und behängertem Traktor in blau ein leichtfüßiges Tänzchen aufs Parkett legt, eilt vom Ort her der nächste Tanzpartner herbei. Dies tut er jeweils im weiten Bogen und mit der gebotenen Eile, die von Partnerwechsel zu Partnerwechsel noch im Tempo anzieht – etwaigen Fußgängern dürften beim Platzmachen am Wegesrand aufwändige Frisuren in Bedrängnis geraten. Der weite Bogen wird von einem kleinen, doch ausreichend breiten Wassergraben diktiert. Der Partnertausch vollzieht sich in respektvoller Entfernung, dabei aber so dicht, dass dem Dreschwerk keine nennenswerte Wartezeit entsteht.
Ergänzend zu diesem Ballett der Elefanten findet ein weitaus grazileres statt, direkt daneben, mit um die fünfzig paar schwingender Tanzbeine in rot. In absoluter Seelenruhe spazieren Störche neben den röhrenden Maschinen, flattern elegant auf, legen jedoch nur dann ein paar hingeschlurfte Meter in der Luft zurück, wenn der Abstand zu groß geworden ist. Die Tanzenden stehen kaum in künstlerischer Korrespondenz, sondern geben sich ganz dem jeweils eigenen Ausdruck hin, gleichzeitig dem Genuss taufrischer Leckerbissen, die das verwirbelte Heu freigibt. Nur ein besonders hungriger Storch befindet sich als Einziger im regelmäßigen Aufholflug, damit ihm wirklich nichts entgeht. Ein anderer hat wohl genug für heute und gleitet im weiten Bogen und leicht bräsig in Richtung Nachtlager. Das Zwiegespräch zwischen spindeldürren Beinen und extradicken Treckerreifen im meterkurzen Abstand schafft die besondere Note dieser sommerlichen Vorstellung. Was die Anmut der Großen in den Drehbewegungen ist die der Hochbeinigen in jedem einzelnen Schritt.
Schon einmal durften wir ein Spektakel zahlloser großer Vögel vor der Kulisse des Klosters erleben, in einem knackig kalten Winter. Im letzten nachmittäglichen Sonnenlicht zogen Hunderte Gänse von den Futterplätzen ins Nachtlager, mit dem zugehörigen Schnabelspektakel, das über Kilometer zu hören ist. Mitten durch den unten schon beschnittenen, glühenden Feuerball – wie einst E. T. vor dem vollen Mond. Wir derweilen sahen mit großen Schritten zu, dass wir Neuzelle noch vor der Dunkelheit erreichen, denn eine Lampe war nicht in der Tasche und die Oderaue kann sehr dunkel sein. Der hochwertig neonbeleuchtete Kosmetiksalon am anderen Rand des Klosterteiches hieß seinerzeit noch Bier Beauty, doch das hat wohl der Phantasie der potentiellen Kundschaft zu viel abverlangt. Das heutige Hair Beauty klingt zwar vergleichsweise trocken, erlaubt jedoch leichter greifbare Assoziationen zu gängigen Inhalten von Schönheit.
Auf dem nun endlich erlangten Weg von der Aue auf das Ortsbild zu machen wir alle paar Minuten den eilenden Gummiwalzen Platz, die nun sichtlich gegen die herannahende dunkle Wolkenfront anfahren. Die Umrisse der Klosterbauten gewinnen zunehmend an Schärfe, werfen den Grauschleier der Distanz ab und machen nun neugierig darauf, was das warme Licht der späten Sonne mit den zahlreichen Gelbschattierungen der Klostermauern veranstaltet.
Kloster Neuzelle
Über das Kloster, die Kirche und den Park mit Kräutergarten muss hier nichts geschrieben werden. Es ist schlichtweg zauberhaft, auch wenn der Kräutergarten gerade komplett umgekrempelt wird. Wo einst Kleingärten stündlich vom Wind der vorbeieilenden Züge umweht wurden, wird derzeit die barocke Struktur der Gartenanlage wiederhergestellt. Hart für die Parzellanten, doch angesichts der Einmaligkeit der Klosteranlage eine nachvollziehbare Entscheidung für den kleinen Ort. Nächstes Jahr soll alles fertig sein, dann mit Gärtnerei, dem eigentlichen Kräutergarten und zahlreichen Obstbäumen.
Der Park unterhalb der großen Wiesenstufen scheint soweit komplett und erlaubt verspielte kleine Spazierereien zwischen dem Wasserbassin, hohen Hecken und gelungenen Kantenmodellen einstiger Pavillons, Arkaden oder Aufgänge. Hin zur Orangerie ergeben sich so reizvolle Perspektiven, die ein bisschen an ein Labyrinth denken lassen. Das Café ist mehr als gut geeignet für das Vertrödeln einer ganzen Weile. Beim Eintreten nimmt der Blick automatisch eine etwas feierliche Note an, und eine Bestellung würde man womöglich in lippenaktivem Hochdeutsch tätigen. Es riecht nach wandhohen Gemälden, salbungsvollen Trauungsworten und aufwändigen Kristallüstern – auch wenn es gerade nichts davon gibt. Im Winter übrigens stehen in den beiden hohen Räumen in der Tat die Bäumchen und sonstigen Großtopferten.
Der feierliche Blick bleibt auch noch beim Erklimmen der Stufen, hinauf zur Ebene des weiten Innenhofes, die wie geschaffen scheint für einen schönen Weihnachtsmarkt. Und weicht beim Betreten der Kirche ganz naturgemäß dem staunenden Blick, der den Mund selten ganz geschlossen lässt. Insbesondere in einer alpenfernen Region, wo nicht in jedem fünften Ort so eine Anballung barocker Elemente wartet. Die Uhr schlägt gerade vier, und so bleiben uns noch ein paar Minuten der Kulanz, bevor sich der riesige Schlüssel für heute zum letzten Mal im Türschloss dreht.
Hinter großen roten Türflügeln fliegt der Blick auf glattes Pflaster entlang einer weißstämmigen Lindenallee und gleich die nächste Anhöhe hinauf, bevor er schnellstens zurücksaust und sich der hübschen Szenerie rund um den Klosterteich widmet. Nicht zuletzt durch den jüngsten Anstieg macht sich spontan der Hunger bemerkbar – der Klosterkrug kommt jetzt mehr als gelegen. Leider sind alle Tische draußen schon besetzt, doch ein Seitenblick entdeckt noch zwei tieferliegende Decks mit einem freien Tisch. Kein Wasserblick, doch dafür der in den Garten und weniger Leute, die dicht am Teller vorbeilaufen könnten.
Auch alles andere passt perfekt, und nach erfolgtem Energieausgleich und einem Zuwachs an momentaner innerer Zufriedenheit ist nun die Runde um den Klosterteich besser als jedes Kompott. Überall fließt es, teils nicht ganz logisch, und der Weg passiert trotz seiner Kürze eine lange Mauer, eine zum Abend ausatmende Wiese und sogar eine Insel, die als Refugium für all die Enten dient, die hier den Teich bevölkern.
Oben am Kirchturm gleißt das blau-goldene Ziffernblatt, als würde es gleich schmelzen und über die Kanten abfließen, wie bei Dalí. Gleich dahinter läuten nun die Glocken aus vollem Hals und geben uns einen stillen Stüber für die letzte Viertelstunde bis zum Bahnhof.
Anfahrt ÖPNV (von Berlin): Regionalbahn über Frankfurt/Oder (1,5 Std.) oder Cottbus (2 Std.)
Anfahrt Pkw (von Berlin): Autobahn und Landstraße in beliebiger Mischung (1,75-2,5 Std.)
Länge der Tour: ca. 17 km (Abkürzungen mehrfach möglich)
Download der Wegpunkte
(mit rechter Maustaste anklicken/Speichern unter …)
Links:
Zeitungsartikel Fasanenwald Neuzelle
Einkehr: Klosterkrug, Neuzelle (am Kloster)
Zum Zickenzeller (Bahnhofstr.)
Sportlerheim (am Priorsberg, Birkenweg)