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Zerpenschleuse: Blaue Brücken, kalter Wind und ein Kanal nach dem Dornröschenschlaf

Nachdem der Dezember sich mit frühlingsmilden Temperaturen von Advent zu Advent und schließlich zu den Weihnachtstagen geschwungen hat und es schwer machte, in festlich-winterliche Stimmung zu gelangen, zieht das neue Jahr nun stirnhebend und kopfschüttelnd einen dicken Strich durch dieses laue Geplänkel und eröffnet den Januar mit einem furiosen Frostschock. Das geschieht so abrupt, dass trödelige Tropfen an laublosen Zweiglein umgehend und in glasklarer Transparenz gefrieren.

Neue Zugbrücke in Zerpenschleuse City
Neue Zugbrücke in Zerpenschleuse City

Wer jetzt dringend an die frische Luft möchte, um diese ganz besondere Stimmung des allerersten Spaziergangs im Jahr einzufangen, sollte nach dem wochenlangen Wechseln verschieden starker Übergangsjacken nun auf ausreichende Wärmedämmung für diese Stunden achten und dabei lieber etwas übertreiben. Ferner empfiehlt es sich, die Windrichtung zu beachten und offenen Passagen gegen den Wind aus dem Weg zu gehen.

Zerpenschleuse

Ganz gut geht das im Örtchen Zerpenschleuse, was ein ganz Besonderes ist im Land Brandenburg. Entlang der Ufer eines schnurgeraden pensionierten Kanals ziehen sich die dicht an dicht stehenden Fassaden des Dörfchens pittoresk und leicht entrückt über fast drei Kilometer, so wie das in Ost- oder auch Westfriesland ziemlich üblich ist, hier hingegen die Ausnahme. Vergleichbares gibt es auch an anderen Stellen im Lande, z. B. in Groß Lindow oder sehr schön auch in Oderberg, doch nirgends ist die Rezeptur so herrlich aufgegangen wie in Zerpenschleuse, nicht so einvernehmlich und direkt der Handschlag zwischen Ufer und Bebauung, und zudem in der Ausführlichkeit. Selbst für einen winzigen Spaziergang lohnt hierher die Anreise, da es so viel an Details zu sehen gibt und so viel Schönheit, panoramisch eingerahmt in tiefe Ruhe.

Im Orte selber hat sich in letzter Zeit sehr viel getan, sogar der Alte Finow-Kanal mit dem herrlich passenden Namen Langer Trödel scheint zurück ins Verkehrsleben gestoßen zu werden. Drei unlängst noch verlandete Stellen sind wieder offen, jetzt bestückt mit blauen Brücken und einer Schleuse, die dann und wann die Durchfahrt auch für Boote erlauben, die höher sind als ein Kanu mit Leuten drin. Damit steht Freizeitschiffern mit Kurs auf Liebenwalde nun eine entspannte Alternative zum viel und breit befahrenen Oder-Havel-Kanal bereit, wenn sie denn genügend Sitzfleisch und Ruhe für die übersichtlichen Brückenöffnungszeiten an Bord haben oder zweidrei Brettspiele unter Deck.

Am Langen Trödel, Richtung Schleuse
Am Langen Trödel, Richtung Schleuse

Vielleicht raubt das dem Langen Trödel vom Erscheinungsbild ein bisschen seine Unschuld, doch ist ein Verkehrsgerangel auch zu badewarmen Jahreszeiten kaum zu befürchten, denn wer schnell weiter will, hätte kaum die erwähnte Geduld zur Hand.

Wer sich Zeit nimmt für all die schönen Hausfassaden, der staunt, was es hier alles für Geschäfte und Wirtshäuser gab. Und kommt darauf, dass der Kanal sehr alt ist, älter als all die großen ihn umgebenden, und dementsprechend lange Jahre wichtiger Verkehrsweg. Schon gut vierhundert Jahre gibt es ihn hier, den Kanal, der seinerzeit von einem hohenzollerschen Fürsten in Auftrag gegeben wurde, um eine Verbindung zwischen Havel und Oder zu schaffen. Wenig später schickte ihn der dreißigjährige Krieg schon wieder in Vergessenheit und er verfiel. Erst über hundert Jahre später ging es weiter, ermöglicht durch den in vielen Hinsichten vorwärtsgewandten Alten Fritz und den Aufschwung der Industrie rund um Eberswalde. Und in der Tat gab es mit der Zeit immer mehr Verkehr auf dem Kanal, die technische Ausstattung musste ständig angepasst werden. Anfang des 20. Jahrhunderts überrannte der Fortschritt schließlich den Kanal selbst in Form des potenteren Hohenzollern-Kanals (heute Oder-Havel-Kanal), der westliche Teil wurde schlichtweg abgetrennt und stillgelegt. Nun ist auch das schon wieder Geschichte, wenn auch erst seit sehr Kurzem – ab der vorausliegenden Saison ist er für Boote kleinerer Bauart wieder durchgehend schiffbar, so zumindest ist der Plan.

Um Wegedopplungen zu vermeiden, lässt sich eine kleine Runde mit Wald- und Wiesenanteil gehen, die zudem ausführliche Rückansichten des Ortes mit sich bringt. Von der blauen Zugbrücke im Herzen des Ortes, wo die einstige Bundesstraße den alten Kanal quert, führt die Uferstraße zwischen Wasser und Häusern Richtung Oder-Havel-Kanal, zugleich der Weg zum Bahnhof. Da ist er jetzt zum ersten Mal, der Ostwind, und auch wenn noch kein dünnes Eis das Wasser ruhigstellt, so hat er doch unzählige der erwähnten Tropfen glasig konserviert, die wie vergessener Weihnachtsschmuck an den Zweigen hängen. Ein Eisvogel saust am anderen Ufer entlang und liefert seinen Beitrag zum Thema.

Tatsächlicher Farbtupfer am jenseitigen Ufer
Tatsächlicher Farbtupfer am jenseitigen Ufer

Hinter den letzten Häusern und dem obligatorischen Hochhaus am Rande der Stadt schafft nun nagelneu eine blautorige Schleuse die viele Jahrzehnte fehlende Verbindung zum damaligen Nachfolger auf der Kanal-Karriere-Leiter, dem Oder-Havel-Kanal. Wer sich die Gemütlichkeit des Langen Trödels jetzt nicht nehmen lassen will, schaut einfach etwas weiter rechts auf die kleine Fußgängerbrücke, die harmlos übers Wasser Richtung Bahnhof führt.

Noch davor führt rechts ein Weg in den Wald hinein, der vor einem eindrucksvoll hohen Damm verläuft, vermutlich dem Negativ-Abdruck des Kanalbettes. So wie der Wind hier in den Kiefern-Wipfeln tobt, will man glauben, dass direkt dahinter ein salziges Meer seine aufgescheuchte Brandung auf den flachen Strand jagt.

Auf dem Weg das Laub ist tiefgefroren und gibt dem Schritt oft unerwartet nach, nicht jede Pfütze hier im Wegeschlamm trägt schon, und so staksen wir etwas unbeholfen bis zum Waldrand. Voraus die erste Rückansicht des Ortes führt ein Wiesenweg bis zu den Gärten. Jenseits der Straße 109 verläuft ein breiter Weg durch den entsprechend der Jahreszeit etwas rumpligen und wenig aufgeräumten Wald, aus dessen Farben alles Grün gewichen ist – es dominieren Erdtöne in allen erdenklichen Varianten. Selbst heiteren Gemütern dürfte es schwerfallen, hier eine gedeckte Buntheit zu entdecken, zudem der Himmel grau und zugezogen ist. In der Tat ist es sehr erfrischend, als sich links des Weges gakeliges Blaubeerkraut erstreckt über die Fläche etwa eines liegenden Elefanten.

Blick über die Wiesen auf den schönen Rücken von Zerpenschleuse
Blick über die Wiesen auf den schönen Rücken von Zerpenschleuse

Im obersten Waldregister ächzen holzrheumatisch klagend die gipfelhohen Kiefern, denen der Frost direkt ins Gebälk gefahren ist. Wäre es schon dämmriger, wir würden unseren Schritt beschleunigen, ohne uns groß dafür zu schämen. Am Waldrand ist es wieder heller, auch wenn hier breit und braun der Acker liegt. Es gibt die zweite Rückansicht von Zerpenschleuse, die durch die Kirche in der Skyline schon mehr Spektakel bietet als vorhin. Noch während heißer Tee genossen wird, wird dieses Bild nun zum Neujahrs-Ereignis, denn die von ihrem flachen Zenit rutschende Sonne bricht durch die Wolken und taucht den langen Ort in dieses unfassbar warme Licht, wie das nur tief im Winter funktioniert.

Während dieses Licht über die Wahrnehmung indirekt von innen wärmt, steht uns hier am Waldrand, kalt und schattig, der Ostwind direkt auf den gut verpackten Hintern. Also rein in den Wald, wahlweise hätte man auch über den gefrorenen Acker direkt Richtung Wärmestrahlung queren können. Auf diesem stehen in größeren Abständen etwas hausgroße Verbünde aus Strohblöcken, hier vorn im Waldschatten fast schwarz, da hinten vor der Allee am Kanal sonnenvergoldet. In einem Dreigebirk etwa auf der Mitte nistet ein exklusiver Hochstand.

Kurz im Windschutz des Waldes ein paar Haken geschlagen, die uns zu einem stillen Sträßchen bringen, das nun als hochgewachsene Allee quer übers Feld zum Kanal führt. Voraus spaziert ein Paar, das dem zunehmend zügigeren Schritt nach eine oder zwei Schichten zu wenig auf der Haut trägt oder über undichte Stellen verfügt, etwa am Hals.

Beim Einbiegen auf die von guter alter Zeit plaudernde Allee entlang des Kanals schlägt nun das volle Ausmaß dieses wohlig warmen Lichtzaubers zu, zeitgleich mit dem froststarrenden Wind, der jetzt direkt von vorn aufs Gesicht trifft und noch weit eisiger ist als vorhin zwischen blauer Brücke und blauer Schleuse. Er zwickt jetzt dermaßen in die Nase, dass dreihundert Meter später erste Zweifel erscheinen, ob die linke Nase noch am Blutkreislauf teilnimmt. Gut, dass man dank der bisherigen Lebensjahre schon über einen gewissen Erfahrungsschatz in dieser Hinsicht verfügt, sonst könnte man in leichte Panik verfallen.

Alte Straße ins Dorf
Alte Straße ins Dorf

Diese paarhundert Meter betagter Straße bündeln so viel Schönheit und Erzählkraft in sich, dass man für einen Augenblick die Wirklichkeit anzweifeln könnte. Das Kopfsteinpflaster auf der rechten Seite ist von den Jahrhunderten gebeugt, war einst vielleicht ein Treidelweg. Links davon liegt ein glatter Streifen für Leute zu Fuß oder Rad und dazwischen kauert eine klobige Balkenreihe, die auch als endlose Rastbank dienen könnte. Zu den Seiten liegt hier die große Weite des Ackers mit seinen warm vergoldeten Strohburgen, dort der tiefste Ruhe ausstrahlende Lange Trödel, bestanden von hohen Uferbäumen. Voraus streckt sich die hohe Kirchturmspitze über alles, was noch davor steht, und zieht den Betrachter ins Dorf hinein.

Am Rand des Fußweges stehen zwei Fahrräder, gegenüber im Gestrüpp des Straßengrabens sind ein Sohn und sein Vater dabei, die aus allerlei Reisig geflochtenen Wände einer bislang dachlosen Baumhöhle zu verdichten – entsprechendes Gezweig liegt dank des zerrigen Windes ausreichend herum. Beide sind sehr beschäftigt und nehmen uns kaum wahr. Kurz darauf passieren wir das Ortseingangsschild von Zerpenschleuse, und sofort beginnt die lange Reihe verschiedenster Häuser und Fassaden, an denen man sich an weniger kalten Tagen länger noch als heute festgucken könnte.

Gleich unter den ersten Häusern ist ein schöner alter Holzschuppen mit großem Werkstattfenster, wo unter dem Namen Emma Emmelie Antikes angeboten wird. Der Uferrand gegenüber ist ganz in diesem Sinne mit viel Lust und Phantasie gestaltet, einer Schneider-Puppen-Madame wurde ein weit wallender Rock aus Kiefernzweigen auf die drahtigen Kurven geschneidert, abends auch beleuchtbar, ferner edler Halsschmuck aus rotlackglänzenden Hagebutten. Weiter vorn im Ort gibt es noch ein Pendant, auch dort wachsen auf dem hochgewölbten Uferrasen allerlei eigenartige Sträucher, an denen verschiedenste Tassen oder auch Bettfedern wachsen, jene aus Draht, nicht aus Gefieder.

Überhaupt ist der gesamte Uferstreifen bis vor zur Bundesstraße bezaubernd, teils sogar mit kleinem Graspfad, hier und da ein Baum und immer wieder einladende Bänke, fast niemals irgendein Verbotsschild. All das lädt intensiv zum Schlurfen und zum Trödeln ein, zumal es links und rechts so viel zu schauen und zu entdecken gibt.

Zwischen Hubbrücke und Alter Schule
Zwischen Hubbrücke und Alter Schule

Zerpenschleuse West

Zunächst jedoch das blaue Bauwerk No. 3. Auch dieses ersetzt als technisch aufwändige Hubbrücke mit allerlei muskulöser Hydraulik einen einstigen Steg aus Festland, der auch hier den Trödel unterbrach. Die westliche Ortslage hat nun ein wenig von ihrem Charme verloren, denn genau hier war das Ensemble aus Siedlung und Kanal ganz besonders verträumt. Man wird sich dran gewöhnen. In der seeartigen Erweiterung vor der Querung hielten sich zur Winterzeit immer jede Menge Enten auf, da der Kanal hier sicher eisfrei blieb. Da stehen wir nun an der schicken neuen Brücke, mit unserem Brot und ohne eine einzige Ente.

Kurz hinter der Brücke steht mit Anmut die wunderschöne Kirche, die liebevoll wieder hergerichtet wurde, fast aussieht, als sei sie eben erst gebaut worden. Hinten überm Wald steht der Himmel jetzt in Flammen, und ein bisschen von diesem Licht fällt durch die hohen Kirchenfenster. Rechts der Kirche verfällt das alte Wirtshaus, links steht fast wie neu die alte Schule, die wirklich genau aussieht wie eine alte Schule. Und als Gasthaus am Finowkanal schon seit langem die Aufgaben des Wirtshauses übernommen hat, zumindest am Wochenende, und das seit Anbeginn mit großer Herzlichkeit.

Etwas weiter treffen wir dann endlich auf die Enten und füttern, was die Tüte hergibt. Eine Frau läuft schnell vorbei mit ihrem Hund und bedankt sich für die Vertretung –  sie ruft noch, sonst macht sie das immer. Der einzige Grund, jetzt nicht in aller Ruhe weiterzutrödeln, ist die weichende Sonne, die dem ungebremst munteren Ostwind jetzt noch mehr Einfluss schenkt. Also am blauen Ausgangsbauwerk von vorhin noch die noblen Steganlagen bewundert und dann nix wie weg in Richtung einer schönen Einkehr mit warmen Ecken und Gemütlichkeit. Es war ein wirklich exklusiver Einstand in das neue Jahr.

 

 

 

Anfahrt ÖPNV (von Berlin): vom S-Bhf. Berlin-Karow mit der Regionalbahn (ca. 1-1,5 Std.)

Anfahrt Pkw (von Berlin): auf der B 109 und ehem. B 109 über Wandlitz Richtung Groß Schönebeck (ca. 1 Std.)

Länge der Tour: ca. 8 km, Abkürzungen gut möglich

 

Download der Wegpunkte

 

Links:

Artikel in der MOZ: Mit dem Boot nach Liebenwalde

Langer Trödel im Juni 2016 eröffnet

Zerpenschleuse: Der Ort stellt sich vor

NABU: Der Eisvogel

 

Einkehr:
Eiscafé Eisschleuse, Zerpenschleuse Mitte
Bootshaus Ruhlsdorf, am Bhf. Zerpenschleuse-Ruhlsdorf

[Das Gasthaus am Finowkanal ist mittlerweile leider geschlossen.]

Brieskow-Finkenheerd: Wechselbäder, Oderweiten und der Kanal an der Schlaube

In seltenen Fällen kommt es vor, dass ein Tag von starken Kontrasten bestimmt ist, gewissermaßen über Stunden ein intensives Wechselbad grundverschiedener Eigenschaften bietet. Diese können die Landschaft, aber auch die durch sie erzeugte Stimmung betreffen. Spannend ist das immer, und manchmal bringt es Durststrecken für die Augen oder Beine mit sich. Doch der nächste Wechsel kommt bestimmt.

Müllrose

Durch den milden Sommertag stoßen wir weit gen Osten vor und erreichen schließlich Müllrose, ein hübsches Städtchen am Wasser etwas südwestlich von Frankfurt an der Oder. Eines der am meisten pittoresken Bachtäler in Brandenburg ist das der Schlaube. Diese pausiert hier im Großen Müllroser See und lässt sich nach Passieren der eindrucksvollen Mühle auf ein Techtelmechtel mit einem betagten Kanal an, der die zutiefst romantische wildnatürliche Schönheit des Schlaubetals auf seine eigene Weise aufgreift. Sehr erfolgreich und nahezu ebenso einzigartig.

Ernst-Thälmann-Straße in Finkenheerd
Ernst-Thälmann-Straße in Finkenheerd

Nach der Anfahrtspause am Müllroser Markt führt ein verträumtes Sträßchen durch stille Dörfer, die teils ineinander übergehen. Dabei umspielt die Straße den Kanal, dass es fast schon liebevoll wirkt. Wenn man all das mit etwas Muße unter die Lupe nimmt, kann man es ihr nicht verübeln.

Brieskow-Finkenheerd

Vorbei an zahlreichen Höhenstufen ist über Schlaubehammer und Groß Lindow bald Brieskow-Finkenheerd erreicht, ein odernahes Stadtdorf mit zwei Bahnhöfen und einer eigentümlichen Ausstrahlung. In den meisten Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Leben hier von einem Heizkraftwerk bestimmt. Diesem sind paradoxerweise auch die beiden bezaubernden Seen Helenesee und Katjasee zu verdanken, ehemalige Tagebaue, die ein paar Fahrradminuten westlich liegen und so klar wie tief sind.

Haus am Kanal am Rand von Brieskow-Finkenheerd
Haus am Kanal am Rand von Brieskow-Finkenheerd

Brieskow liegt direkt am Kanal und ist als Dorf noch zu erkennen. Finkenheerd, seinerzeit nur kleines Anhängsel von Brieskow, erweckt den Eindruck einer durchgeplanten Zweckanlage und scheint schnell in die Größe gewachsen zu sein, vielleicht zu schnell. Es wirkt ein wenig wie eine kleine Ausführung gelungener sozialistischer Planstädte mit ihren durchdachten Straßenzügen und sorgsam eingefügten Grünflächen, doch wurde offenbar nicht daran gedacht, entlang der Straßen Bäume zu pflanzen. Das geht auf Kosten der Behaglichkeit. Bedingt sicherlich auch durch die Nachwendezeit wirkt die Bausubstanz uneinheitlich und wenig aufeinander abgestimmt.

Finkenheerd liegt auf einem kleinen Hochplateau und ist mittlerweile vielfach größer als Brieskow selbst, beide gehen nahtlos ineinander über, und irgendwie fehlt dadurch eine Mitte, ein Kern oder ein Kiez. Eine schnurgerade Straße führt sachlich und von hohen Laternen gesäumt einmal von Nord nach Süd, unterbrochen nur durch den kleinen Kreisverkehr, an dem eine gut gepflegte Bergbau-Lok mit drei Loren als Denkmal vergangene Zeiten wachruft.

Schwanenfamilie auf dem Kanal, Weißenberg
Schwanenfamilie auf dem Kanal, Weißenberg

Hinter den letzten Häusern fällt die Straße spontan ab und durchquert einen kleinen Grünzug. Unterhalb des Weges liegt noch einmal etwas tiefer ein von Seerosenblättern bedecktes Wasser, vermutlich ein Kanal. Kurz darauf durchschreitet man an einem rostigen Tor zum Gelände des Heizkraftwerkes eine Art Weltenschleuse und geht nun auf einem Radweg entlang dieses Kanales, inmitten tiefster dichter Natur, grün und nochmal grün. Als sollte der Mangel an Bäumen jetzt mit einem Mal ausgeglichen werden. Okay, akzeptiert.

Hindurch unter der Bahnbrücke mit ihrer historischen Ausstrahlung, hier verkehren die Züge zwischen Frankfurt an der Oder und Eisenhüttenstadt, wahlweise auch weiter bis nach Cottbus an der Spree. Eine neue Umfahrung des Ortes entlang der Bahn ist in Arbeit und macht einen soliden Eindruck. An der Landstraße wechseln wir an einer alten Schleusenkammer auf die andere Kanalseite und lesen, dass das hier der Friedrich-Wilhelm-Kanal aus dem 17. Jahrhundert ist, damals die allererste Verbindung zwischen Oder und Spree.

Altes Schleusentor bei Weißenberg
Altes Schleusentor bei Weißenberg

Der relativ flache Kanal bietet ein Bild höchster Industrieromantik, die hier auf Kilometern Länge direkt mit Naturromantik verschmilzt. Die flachen Böschungen der Ufer sind üppig bewachsen, das Kanalwasser tiefschwarz und dabei glasklar. Der Grund ist flächendeckend lose bewachsen von verschiedensten, durchweg sympathisch wirkenden Wasserpflanzen, nicht also von schlierigen Algen und dergleichen. Man ist gewillt, sich direkt ans Ufer zu knien und ohne Hilfe der Hände einen Schluck zu nehmen. Allein eine dieser Stellen hier am Kanal wäre schon die lange Anreise wert gewesen – die weiten Flickenteppiche des See- und Teichrosenslaubs mit ihren eingestreuten Blüten in Gelb und Weiß steigern noch die Ruhe, die der Kanal ohnehin schon ausstrahlt.

Die kleine Straße hier am südlichen Ufer ist zum Teil mit schon größeren Bäumen bestanden, die Wurzeln zapfen vermutlich direkt aus den Kanal. Stellenweise schlagen auch wieder baumlose Phasen durch und erinnern an den Beginn der Tour, doch der gleich rechts liegende Kanal macht das locker wett. Bei Weißenberg passieren wir die dortige Schleusenkammer, eine von den wenigen, die noch nicht aufgefüllt oder teilaufgefüllt ist. Das Wasser fällt hier noch die Höhenstufe herab, träge zwar, doch auf jeden Fall eindrucksvoll. Die Flügel des Schleusentor sind faktisch geschlossen, in der Tat sind einige der diagonal verbauten Hartholzbohlen über die Jahre oder Jahrhunderte weggemorscht und ergeben ein liebenswert-morbides Bild – es ist eines meiner Lieblingsfotos, schon seit Jahren.

Nordwand der Klixmühle
Nordwand der Klixmühle

Auf der anderen Seite liegt in Weißenberg der Sportplatz, wo jedes Jahr im August das Open Air Groß Lindow stattfindet, dieses Jahr zum 19. Mal. Dann reisen hier immer zich Leute mit Zelten an, viele davon gleichermaßen bärtig und bäuchig, und lassen sich durch die Musik in schwelgerische Stimmung versetzen an diesem schönen Ort zwischen Wald und altem Kanal. Vor einigen Jahren war als größter Name Mungo Jerry plakatiert, dessen entscheidender Hit „In the summertime“ auch heute noch weltweit geläufig ist. Nicht das schwül-sehnende „… in the Summertime …“ im Refrain (das waren The Kinks mit „Sunny afternoon“), sondern das stampfend-rollende gleich in der ersten Zeile des Liedes. Beide britisch und nur vier Jahre auseinander liegend, das ältere fast 50 Jahre alt. Mungo Jerrys Frontmann Ray Dorset war äußerst markant durch seinen fast kopfumschließenden kugelrunden Helm aus dichter Afrowolle, der aus heutiger Sicht ein von Herzen kommendes Lächeln verursacht. Naja, jedenfalls hatten wir damals ein paar Takte vom Soundcheck mitbekommen und natürlich auch die entscheidende Zeile. Und das blieb irgendwie prägend als Erinnerung an Groß Lindow.

Klixmühle

Der nächste Uferwechsel folgt an der Klixmühle, einst eine Sägemühle, deren Ruine noch klar vermittelt, wie schön das Ensemble mal aussah. Das Gemäuer rund ums Mühlrad ist noch vollständig erhalten, doch das Wasser der Schlaube stürzt jetzt ungehindert eins tiefer.

Kanalverbreiterung an der Klixmühle
Kanalverbreiterung an der Klixmühle

Hinter der Mühle weitet sich das Kanalwasser zu einem länglichen See, der sogar über eine Insel verfügt. Fast alles ist von den großen festen Blättern der Seerosen bedeckt, so dass die zahlreichen Enten nur im zarten Dauerslalom vorankommen. Was ihrer entspannten Ausstrahlung nach jedoch auch mit Lustgewinn einhergeht. Ein schattiger Spazierweg liegt unterhalb des nördlichen Uferhanges, gegenüber grenzen die Wiesen riesiger Grundstücke ans Wasser, und einige dort haben diese Chance angemessen genutzt.

Groß Lindow

Im Herzen von Groß Lindow liegt eine weitere Höhenstufe des Kanals. Die alte Schleusenkammer ist komplett mit Erde aufgefüllt, doch aus der Wiese ragen knöchelhoch noch die alten, abgerundeten Mauern des Schleusenbeckens heraus – ein Anblick von zurückhaltender Eindrücklichkeit. Heute lässt sich hier sehr schön eine Rast einlegen. Oben quert die Landstraße und führt vorbei am Gasthaus mit seiner schönen kleinen Außenterrasse  den Wasserlauf. Auf dem breiten Kanalsee liegt ungemein pittoresk die Treidelfähre, ein zauberhafter alter Kahn, der nirgendwo schöner aussehen könnte als genau hier. Das lange Gefährt legt am Wochenende und auch an den Tagen davor zu Fahrten auf dem Friedrich-Wilhelm-Kanal ab, auf denen niemand hungern muss.

Weg entlang des Friedrich-Wilhelm-Kanals, Groß LIndow
Weg entlang des Friedrich-Wilhelm-Kanals, Groß LIndow

Ein paar Höhenmeter weiter oben steht eine enorm alte Linde, vielleicht die namensgebende für den Ort. Ein wahres Spinnennetz von Abspanngurten ist in der knorrigen Krone entstanden und gibt alles, um den Riesen im Gleichgewicht zu halten. Etwas daneben befindet sich die kleine Kirche des Ortes, der Platz dazwischen ist schön gepflastert worden. Vorbei an steinigen Gärten verlassen wir Groß Lindow durch eine kühle Waldsenke, wohltuend mittlerweile, denn der Tag hat an Sommerwärme zugelegt. Vorbei an Bungalow-Siedlungen mit wohlklingenden Namen führt die Straße in den Wald, lichter Kiefernwald mit dem entsprechenden Duft, einem zutiefst märkischen. Etwas Wind geht durch die Stämme, ein paar Zapfen knacken unter den Sohlen und die obligatorischen Ameisenkolonnen verrichten ihr Tagewerk. Links im dichten Wald schlängelt sich die Schlaube durch das Unterholz, doch das weiß nur, wer auf die Karte schaut.

Rechts öffnet sich eine Lichtung, die gänzlich einer Handvoll Pferde zur Verfügung steht. Einige tragen knöchellange Mäntel in hellem Grau, vielleicht eine Reha-Maßnahme. Alle scheinen sich hier wohlzufühlen. Ein sandiger Weg führt zwischen wetterblondierten Weidezäunen zu einem Gehöft, das recht beiläufig die Lichtung beendet, bevor erneut die Bahn unterquert wird. Direkt davor steht ein Stück nagelneue breite Straßenbrücke, einsam noch und ausschließlich gradlinig, doch großartig in Szene gesetzt durch orangene Baufahrzeugboliden und blauweiß-zerfaserten Himmel. Wie der maßlos übertriebene Buddelkasten eines verwöhnten Jungen, der nie etwas zu Ende buddelt. Wie aus Trotz ist die Bahnunterführung besonders rundbogig und gemauert aus gebrannten Ziegeln, ewig haltbaren.

Treidelkahn in Groß Lindow
Treidelkahn in Groß Lindow

An der eilig befahrenen Bundesstraße schickt ein Rocker auf seinem Bike ein klares Kompliment an eine Blondgelockte zu Fuß, indem er die Auspuffklappe kurz öffnet und es zwei Sekunden rüpelig knattern lässt. Schnell rüber und gleich wieder in den Wald eingetaucht, vorbei an einigen Häusern in fast etwas spektakulärer Hanglage. Von oben auf der Anhöhe klingt es so, als ob ein schöner alter Dampfer heißen Dampf durch seine heulende Pfeife jagt.

Kurz darauf öffnet sich voraus die Landschaft in berauschende Weite. Was aussieht, als ob weiter hinten die See ihre Wellen anbranden oder von mir aus auch die Wattwürmer ihre vergänglichen Löcher in den Fußboden bohren lässt, sind die entwässerten Flächen einer Art südlichen Oderbruchs. Große Teile davon sind Totalreservate, grenzend an einen Oderstrand, dessen Linie an diesen Stellen besonders verspielt ist.  Als wir am Waldrand unterhalb des Hanges abbiegen, klärt sich der Dampfer von eben – oben gibt es eine Kuhwirtschaft, von wo der Ton entstammte. Wo die Kuh das wohl gelernt hat …

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Pferde auf der Waldlichtung

Wiesenau

Vorbei an weiteren Ställen für Tiere mit Wolle und auch Ringelschwänzen erreichen wir Wiesenau. Auch hier gibt es kaum Straßenbäume, so dass der Verdacht kommt, dass es dafür einen guten Grund geben muss. Vielleicht hat es mit der Flutgefahr zu tun. Das Gasthaus hat gerade geschlossen, sonst wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für ein kühles Getränk. Stattdessen legen wir am Denkmal hinter der Kirche eine schattige Pause für die müden Beine ein.

Im Storchennest am Ortsausgang versuchen sich drei schon ausgewachsene Neustörche mit dem wenigen Platz im Nest zu arrangieren und wissen nicht, wohin mit den großen Schnäbeln. Diese und auch die Beine sind noch grau, rote gibt es erst nach der Jugendweihe. Am Ortsrand kommen uns leise schnatternd vier verschiedenaltrige Mädels entgegen, das kleinste hoch auf einem Pferd und alle etwas rosa angezogen.

Einsame Überführung im Sande
Einsame Überführung im Sande

Was jetzt kommt, lässt sich je nach Betrachtungswinkel als eine der oben erwähnten Durststrecken betrachten. Oder als meditativer Einschub. Oder als Gelegenheit, mal schön auszuschreiten. Mit müden Beinen fällt die Entscheidung zwischen den Optionen schwer, letztlich siegt der Genuss der Weite. Gut drei Kilometer führt die vor uns liegende Straße jetzt schnurgeradeaus Richtung Oder, und theoretisch könnte man den Geist aus und den Autopiloten einschalten und wahlweise ein Schläfchen einlegen. Doch viel zu schön ist die Suche am Horizont nach Kirchen am polnischen Ufer voraus und dem gewaltigen Hochofen von Eisenhüttenstadt im Süden. Viel zu angenehm auch das Rauschen in den hochgewachsenen Pappeln, die allein dadurch ein Gefühl der Erfrischung ins Spiel bringen. Fast kein Auto ist unterwegs und man hat hier nichts auszustehen. Weit voraus lässt die Wärme die Luft über der Straße flirren und nicht daran zweifeln, dass dort die Prärie liegen muss.

Blick auf Wiesenau
Blick auf Wiesenau

Schön ist es dann doch, als wir am verschlafenen und seltsamerweise froschlosen Freiwasser links abbiegen und es nun schottrig unter den Füßen knirscht. Tatsächlich fließt das pflanzenreiche Gewässer ein wenig, wie sich am folgenden Wehr herausstellt. Die Felder hinterm anderen Ufer sind schon abgeerntet und stoppeln schwedenblond, links des Weges ist der Raps herangereift und bietet unzähligen Vögelchen Jagdrevier, Versteck und Spielwiese. Hinter einem kleinen Wald wiegt sich eine strohleuchtende Wiese im trägen Wind, aus der Hörner herausragen. Da muss sie wohl recht hoch sein, diese Wiese. Oder die Ziegen an den Hörnern kurzbeinig. Eine letzte Holunderblüte reckt sich halb gen Himmel, und auch ein später Kuckuck ist noch zu vernehmen.

Piepmatz im Raps
Piepmatz im Raps

Nach Verlassen des Freiwassers führt eine junge Lindenallee direkt auf den hinteren Oderdeich zu, der beachtlich hoch ist. Am Schöpfwerk angebracht ist eine dieser Marken, die zeigt, wie hoch das Oderwasser vor 18 Jahren stand. Und lässt den Mund offenstehen. Doch vorstellen kann man sich die Dimensionen trotzdem nicht. Wahrscheinlich nur, wenn man es selbst gesehen hat.

Ein kleiner Schleichweg führt hinauf zur Straße. Die Fisch-Gaststätte hier ist eher für die Mittagszeit gedacht und hat leider schon geschlossen. Doch auf der Hinfahrt fiel ein Schild auf, nur ein paar Dörfer weiter. Also schnell zurück zum Ausgangspunkt und dann direkt dort hin, auf der schönen stillen Straße. Hinter Groß Lindow kommt gleich Weißenspring und hier die Gaststätte mit dem schönen Namen „Zum kühlen Strande“, der nichts verspricht, was er nicht halten würde.

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Entlang des Freiwassers nach Brieskow

Was wir jetzt brauchen, all das finden wir an diesem Ort und noch weit mehr – hinten die Terrasse liegt in einem schönen Garten, mit breiter Feldsteintreppe hinab zur Uferwiese am Kanal. Der blaue Erntetrecker gegenüber ist noch immer tüchtig, das Wasser des Kanals so klar und schwarz wie schon den ganzen Tag und dort am flachen Grunde tummeln sich die Abendfische.

 

 

 

Anfahrt ÖPNV (von Berlin):
Regionalbahn über Frankfurt/Oder nach Brieskow-Finkenheerd/Kraftwerk (knapp 1,5 Std.)

Anfahrt Pkw (von Berlin):
(ca. 1,5 Std.) reizvoll über Müllrose: Autobahn Richtung Frankfurt/Oder, Ausfahrt Müllrose, dann in Müllrose am Kanal links und gleich wieder rechts auf die Landstraße Richtung Brieskow-Finkenheerd (viele Parkmöglichkeiten im Ortsgebiet);
direkt: Autobahn Richtung Frankfurt/Oder, Ausfahrt Frankfurt/Oder Mitte, dann Richtung Eisenhüttenstadt

Tourdaten: Länge ca. 20 km, Teilung bzw. Abkürzungen gut möglich

 

Download der Wegpunkte

 

Links:

http://www.muellrose.de/

http://www.brieskow-finkenheerd.de/

https://de.wikipedia.org/wiki/Kraftwerk_Finkenheerd

https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich-Wilhelm-Kanal

www.youtube.com/watch?v=yG0oBPtyNb0
(Mungo Jerry – In the summertime (Video))

Einkehrempfehlung:
Zum kühlen Grunde, Groß Lindow OT Weißenspring (gemütliche Gaststätte mit herrlichem Garten hinten zum Kanal raus, gutes Essen, faire Preise)(Tel. 033609/876)