Nachdem sich der Juli von seinen frischkühlen Einstand nach und nach zu sommerlichen Temperaturen hochgeschaukelt hat, soll nun wieder die 30-Grad-Marke erreicht werden. Die Flucht in einen der kühleren Winkel des Landes lässt sich hervorragend mit der etwas weiteren Anreise in den hohen Nordosten Brandenburgs verbinden, die gelb markiert und unterstrichen auf dem Zettel für diese Jahreszeit stand. Dort, im immer wieder besonderen Unteren Odertal, hat kürzlich die Kanu-Saison begonnen, alles Getier sollte also ausgebrütet und grundlegend aufgezogen sein und wenig empfindlich gegen die behutsamen Störungen des sanften Tourismus.
Im Hinterkopf scheint diese Gegend immer weit weg zu sein und kommt daher über die Jahre nur selten vor, doch tatsächlich braucht der Zug vom Alex nur gute neunzig Minuten nach Schwedt, und auch auf der Straße dauert das unter freundlichen Bedingungen nicht viel länger. Noch immer ist das Wort Schwedt selbst bei regelmäßigen Brandenburg-Reisenden eher mit Industrie, abgehalftert und spröde assoziiert als mit Altstadtgassen, Ufer-Promenade und Naturnähe, und so kann jeder, der sich darauf einlässt, gern etwas staunen über diese kleine große Stadt am Oderwasser.
Schwedt
Eine besondere Spezialität ist neben den im Stadtgebiet verteilten Plastiken die großflächige Fassadenmalerei, welche die eigene Optik an der Nase herumführt und Neugierige zum wiederholten Hin- und Hergehen oder schrittweisen Annähern verleitet. Immer wieder erhebend ist zudem die großzügig angelegte Lindenallee, die zum einen ihrem Namen alle Ehre macht, zum anderen direkt auf das weithin bekannte Theater zuführt, dessen ausgelagerte Freiluft-Bühne über der Oder schwebt.
Gleich dahinter öffnet sich, ähnlich imposant wie beim Mühlendamm in Brandenburg mit der Havel, die große Weite und grüne Wildnis der Oderauen, die bis zum Horizont reichen. Darüber vergisst man glatt, dass sich etwas im Hinterland eine der größten Industrieanlagen weit und breit ausstreckt, ohne die in Berlin und Brandenburg kaum etwas rollen oder laufen würde. Der Betrieb auf dem vier Kilometer langen Gelände der Erdölraffinerie läuft ohne Unterbrechung seit fünfeinhalb Jahrzehnten, hier am westlichen Ende der bislang längsten Pipeline der Welt. Das andere Ende liegt einige Hundert Kilometer hinter dem Ural, bereits in Asien.
Das Wasser direkt am Stadtrand und in den zahllosen Armen der breiten Aue stellen der Finowkanal und die Alte Oder, die bei Hohensaaten der breiten Oder sehr nahe kommt. In Richtung Norden entfernt es sich als Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße jedoch erheblich vom Grenzfluss, so dass zwischen Schwedt und dem Übergang nach Polen schon ein paar Kilometer liegen. Dahinter beginnt eine andere Kultur, eine andere Sprache und in manchen Belangen auch eine kleine Zeitreise.
Noch während der ersten Schritte, beim Betreten der ersten von mehreren Brücken, reißt am zarten Frauenfuß neben mir ein Riemen der Sandale, der zwar keine Hauptverantwortung trägt, jedoch nach einigen Probemetern dennoch entscheidet, dass diese tüchtige Sohle nach zehn Jahren für immer aus dem Spiel ist. Die Geschäfte am Stadtrand haben zwar geöffnet, doch als zweite Option stehen im Kofferraum die ebenfalls erfahrenen Gummistiefel bereit. An einem Hochsommertag wie heute und mit viel Sonne im Herzen so eine Sache, doch gut laufen lässt sich darin auf jeden Fall. Und eine gewisse Einmaligkeit ist damit auch gegeben, auch wenn die Botten farblich nicht zum Kleid passen. So kommt es dann.
Also ein zweites Mal über die erste Brücke, die sofort einen weiten Blick auf die seenbreite Ausbuchtung des Wasserstromes freigibt. Daneben fällt der Blick auf das die Baumwipfel überragende Theatergebäude, neben dessen gläserner Dachkonstruktion in jeweils eigenen Nischen detailreiche Figuren stehen, lebensgroß. Hinten der Horizont ist ewig weit weg, vorn am Ufer lockt an den weiten Terrassen mit ihren Freitreppen der Eiswagen. Doch heute soll es polnisch schmecken unterm Gaumen, also weiter.
Gleich am anderen Ufer, der Radweg zieht magisch in die grünen Auen, beginnen die Düfte der wachsenden oder gemähten Wiesen, der umschilften Wasserformen und der ersten Früchte an den Bäumen, dazu gibt es diverse Vogeltöne und unter all dem einen breiten Teppich von zirpenden Grillen, der nur manchmal kurz auf Zimmerlautstärke abschwillt. Am Himmel ziehen gemächlich wie eine Karawane große Wolkengebilde, und von Osten scheint sich ganz langsam das verkündete Gewitter zu nähern, das so gegen Sonnenuntergang zur Sache gehen soll.
Links der Straße läuft treu ein meterbreiter Streifen für Unmotorisierte, rechts rauscht in regelmäßigen Schwüngen der Verkehr vorbei. Zu verdanken ist diese verträgliche Dosierung einer Ampel an der Oderbrücke. Vom parallel verlaufenden breiten Wasser des Dammgrabens ist nichts mitzubekommen, doch nach links öffnen sich an den Brücken über breitere Wasser immer wieder gut gewässerte Sichtfenster, die den Blick zum Schweifen einladen. Aus beiden Richtungen naht hin und wieder ein Radfahrer, im kleinen Grenzverkehr und eher nicht touristisch. Zwischen all diesen Eindrücken sind die drei Kilometer bald geschafft und die blau-orange Brücke ins östliche Nachbarland liegt vor uns.
Krajnik Dolny
Drüben hocken ein paar kleinere Läden, wo es die üblichen Zigaretten, Getränke und Vogeltränken gibt sowie noch dies und das. Der Verkehr ist übersichtlich. Draußen vor einem der Läden sitzt ein Mann und hat vor sich auf dem Grill üppig bestückte Schaschlik-Spieße zu liegen, die verführerisch aussehen und auch duften. Doch wir bleiben stark, wollen ja nach der Bergtour unsere Kräfte auffrischen, gemütlich und im Sitzen, und mit diesen Spießen wären wir lange Zeit satt. Schade ist es schon – vielleicht ja auf dem Rückweg und dann morgen schön Tomatenreis dazu.
Schon häufig war von Brandenburger Seite her diese bergige Kante über dem polnischen Ufer zu sehen, und jedes Mal stand die Frage, warum dieses Ufer so gänzlich anders beschaffen ist und wie es da wohl aussieht, wie steil die Flanke ist und wie genial der Ausblick, wenn man oben steht. Heute nun ist es soweit, angeschubst durch einen mütterlichen Tipp vor Jahren. Ziel ist Dolina Miłości, das „Tal der Liebe“, eine vor mehreren Jahren aus langem Schlaf erweckte, höhenmeterreiche Parklandschaft von ganz eigenem Charakter. Ursprünglich war dieser naturalistische Park von einer Anna für einen Carl angelegt worden, was mittlerweile zwei Menschenleben zurück liegt. Ein ausführlicher, durchaus spannender Geschichtsabriss findet sich auf der polnischen Internetpräsenz.
In Krajnik Dolny verlassen wir die Landstraße nach rechts, hinein in einen Weg, der eher nach privater Grundstücksauffahrt aussieht. Vorbei an einem noblen Anwesen mit viel Platz verschwindet er bald in einem bachlosen Waldtal, wo zum ersten Mal der intensive Duft großer Mengen gefallener und hängender Pfläumchen die Luft erfüllt. Natürlich öffnet die Klischeemaschine sofort und ungefragt das sinnenkräftige Wort Sliwowitz im Hinterkopf, obwohl dieser Schnaps, einer der knackigsten weltweit, ja nicht hauptsächlich in Polen zu verorten ist. Der Aufstieg beginnt moderat, der Wald wird dichter, und kurz vor dem Austritt wird es für ein paar Meter sehr steil. Oben, auf freiem Feld, liegt nun im Rückblick die erste weite Aussicht in die ebene Landschaft hinter der Oder. Voraus sind die ersten Häuser des oberen Dorfes zu sehen.
Krajnik Gorny
Alles hier strahlt Ruhe aus. Etwas eiliger rumpelt nur ein drahtiger Trekker durchs Dorf, denn nur noch ein paar Stunden kann das Stroh trocken vom Acker geholt werden. Würzige Düfte, archaische Gartenbilder und eine reiche Flora ziehen sich durch alles, und am Dorfausgang ist er wieder da, der Duft der kleinen Pflaumen. Wir zweigen bald auf einen Weg ab, der durch Einsparung einiger hundert Meter den ohnehin langen Weg nicht noch länger machen sollte, doch das geht gehörig nach hinten los. Die angedachte Spur ist mittlerweile zugewachsen, doch zunächst lässt sich auf den abgeerntenen Stoppelacker ausweichen. Während wir die freie Panorama-Sicht mit unzähligen Schornsteinen und dem ewigen Flämmchen des Kombinats betrachten, beginnt die Sonne nun richtig zu drücken, heizt es wärmer noch in den Gummistiefeln und unter den Hüten, wird der erhoffte Schatten nun zum dringenden Bedürfnis. Das versuchsweise Umkrempeln der Gummistiefel bringt etwas Linderung.
Doch dreihundert Meter vor dem angestrebten Waldrand, am Ende der Stoppeln, steht schulterhoch der Raps, erntereif, fast hölzern struppig und voller streitlustiger Widerhaken. Das macht es erstaunlicherweise sogar dem aufgeschreckten Rehbock schwer, das Weite zu suchen. Eine kaum sichtbare Fahrspur erspart uns den Stillstand oder die reumütige Rückkehr zur letzten Abzweigung und gestattet mit nur wenigen Blessuren den Anschluss zum rettenden Waldrand.
Hier gibt es nun wieder ein kompetentes Wegesystem, welches das Tal der Liebe durchzieht. Umgehend taucht man ein in eine teils dramatisch ausgeformte Gebirgslandschaft mit schmalen Pfaden, steil abfallenden Hängen und dichtem, wildem Wald. Kleine Quellbäche bahnen sich unter romantischen Brücklein ihren Weg durch die vermeintliche Wildnis und bilden auf Stufen vorzügliche Wildschweinsuhlen aus. Dementsprechend steigt der Puls, als es hier und dann etwas weiter und bald wieder dort raschelt und nach größerem Gewicht klingt, als es ein putziger Eichkater oder ein Fuchs auf die Waage brächten. Kurz darauf knackt es weit unten, wo wir zur Erleichterung ein kleines Reh entdecken. Das guckt uns genauso an wie wir wohl schauen, bevor es nach weit mehr als drei Momenten langsam von dannen stakst.
Dolina Miłości (Tal der Liebe)
Danach wird es symbolträchtig im Tal der Liebe, als ich uns, befeuert durch die Leidenschaft zum Wegesammeln, mit viel Bücken und Verbiegen tief in eine strauchige Sackgasse führe und auch das GPS-Gerät im ausgeprägten, dicht bewachsenen Relief an seine Grenzen stößt. Die Gummistiefel erweisen sich jetzt als Segen für den zarten Frauenfuß, währenddessen ich mich mit einer wegwischenden Geste im Geiste nach Herzenslust zerkratzen und zerpieken lasse und in den steilen, wegarmen Flanken auf losen Sohlen rumrutsche. Auf meinen dackeligen Blick hin kommt ein griffiger Vorschlag mit Blick und Handzeig nach oben, der uns nach ein paar Höhenmetern im Unterholz zum bequemen Wegesystem zurückbringt. Die entsprechende Auslegung der Metaphern auf den Pfad der Liebe überlasse ich jedem selbst, die resultierenden Erkenntnisse ebenso. Doch sie werden alle wahr sein.
Im Folgenden halten wir uns nun bei Gabelungen ganz pragmatisch an Wege mit Mindestbreite und genießen zugleich die Romantik dieser wilden Parkanlage, über die an vielen Stellen gut lesbare Tafeln informieren. Einer der schönsten Aussichtspunkte im nördlichen Bereich lässt an Hochküsten auf verschiedenen Ostsee-Inseln denken. Neben einem Pavillon stehen hier drei Kiefern in großer Geste, dazwischen liegen Findlinge, zu denen es ein paar Meter weiter eine Geschichte zu lesen gibt. Der Ausblick ist enorm und kommt unerwartet.
Durch dichten Laubwald fällt der Weg ab in ein vergleichsweise offenes Tal, wo sich unterhalb einer Quelle mit kleinem Bachlauf zwei Weiher eine Lichtung teilen. Hier treffen wir auf erste Menschen. In den „Teichen Adam und Eva“ steht jeweils eine der Figuren in der Wassermitte, beide heißen eigentlich Apollo und Diana und können scheinbar zueinander nicht kommen – was an ein anderes bekanntes Paar denken lässt. Rund um die Teiche sieht es nun richtig nach Park und Gärtnerhand aus, mit einer Pergola, angelegten Wegen und den beiden Teichen.
Zaton Dolna
Von hier lässt sich nun wahlweise gleich zur Oder absteigen oder der reizvolle Weg über die Anhöhe der Bastei nehmen, von der eine steile Holzstiege alten Stils hinabklettert zum Haupteingang des Parks. Hier steht neben einem Pavillon und einer großen Karte mit dem Wegenetz nun auch der relevante Hinweis auf das Café Wiejski Kocur, zu deutsch Dorfkater. Der ist mir sofort sympathisch, und nachdrücklich zieht nun der leere Magen und die vergangene Kraft nach all dem durchstandenen Strupp der Liebe und den starken Eindrücken zum Ort des Besteckes und der polnischen Küche.
Schon am Ortseingang lockt eine herrlich über der Oder gelegene Terrasse hinauf ins Café „U Beaty“ und nutzt damit mangelnde Orts- und Sprachkenntnis und ihren Standortvorteil auf das Beste. Der Kater vom Schild vorhin ist dann leicht adaptiert auf dem Garten-Kamin zu entdecken, die Dame des Hauses spricht allerhand Deutsch und bietet nicht nur Kaffee, Kuchen und Getränke, sondern auch zwei herzhafte Gerichte der polnischen Küche an. Die Luft und die Sonne drücken noch immer, doch hier oben geht ein sanfter Wind durch die Talflanke, und so lässt sich sehr gut zu einer ausufernden Pause ausholen, die gewissermaßen einmal die Karte abgrast. In der Bilanz sind wir froh, dass wir den Schaschliks vorhin widerstanden haben, denn der Aufenthalt bei bereits sinkender Sonne verläuft herzlich, unterhaltsam und genießerisch. Da der Rucksack ohnehin sehr schwer ist, nehmen wir noch eins von vier großen Gläsern Honig mit, die neben der Schüssel für ausgediente Kronkorken auf der Bank stehen. Knapp drei Pfund Lindenhonig sichern für die nächsten Monate eine gesunde Energiequelle und regelmäßig aufgefrischte Erinnerungen an diesen Ort.
Während der Öffnungszeit lässt sich der Garten von Frau Beata durch eine von hohen Stockrosen gesäumte urige Hinterpforte direkt in Richtung Kirche verlassen, von dort kamen vorhin schon ein paar Stammgäste hergeschlurft. Zur Kirche geht es nochmal ordentlich hinauf. Drei junge Leute machen das kleine Gotteshaus über dem Fluss schön für den morgigen Gottesdienst, wozu unter anderem frische Blumen und Besenschwingen gehören. Auf dem grasigen Kirchhof steht eine Marien-Statue in sanften Blautönen, dahinter öffnet sich über den Wipfeln ein Blick auf die Oder und ihre Auen. In der Kirche ist es angenehm kühl.
Auf der Runde durchs kleine Dorf kommen wir dann schließlich am einladenden Dorfkater vorbei, der hinterm großen Scheunengebäude vermutlich einen schönen Gastgarten anbietet und das nächste Mal besucht wird. Und dann liegt sie vor uns, die Oder, gegenüber ist bereits das Eishaus am Sperrwerk zu sehen, das wir im Falle der längsten Option nachher direkt passieren werden.
Direkt über dem Oderufer folgen wir nun dem schmalen Fahrweg unterhalb des steil ansteigenden Hanges mit seinem vielfältigen Wald, immer wieder gibt es Einschlüpfe und Anschlüsse an die Wege im gebirgigen Tal der Liebe – allein die Topographie gibt ja schon herrliche Symboltracht her. Das hindernislose Sträßlein läuft sich von selbst, wir rollen regelrecht und kommen unbeabsichtigt auf Tempo. Etwas weiter hinten schlendern erstaunlich stramm zwei junge Mädels auf dem Weg zur Nacht der Nächte, im Rucksack einen Lautsprecher. Der bezieht vom mobilen Endgerät handelsüblichen Vocodergesang mit Musik, deren Bassbereiche den Lautsprecher klar überfordern. Die vokalen Passagen scheinen per Zufallsgenerator erzeugt, die Stimme klingt weinerlich und alle Tracks nutzen denselben sparsamen Ideenpool. Da treu das ganze Album abgespielt wird und die Mädels rasch aufholen, geben wir uns respektvoll geschlagen und lassen sie im vorgeblichen Rahmen einer Trinkpause vorbeiziehen, städterisch dürstend nach abendlicher Stille und dezenten Vogeltönen.
Die weit entfernte Brücke ist also schnell nähergekommen, das Geländerrot wird zum eigentlichen Orange vom Hinweg und die Entscheidung für die längste der drei Varianten ist gefallen, nicht zuletzt wegen langem Oderauen-Entzug. Drum kaufen wir in einem der kleinen Läden in Krajnik Dolny noch eine köstliche Mischung aus drei Pfund Wasser, viel Zitrone und wenig Zucker, was sich schon bald als goldrichtig herausstellt.
Was wir vor der Brücke als polnischen Rückenwind hatten, gibt es jetzt am anderen Ufer als erfrischende Brise von vorn, die viele Düfte des Sommers in sich vereinigt und dabei aus dem Oderwasser, den Deichwiesen und den saftigen Auen schöpft. Am anderen Ufer erhebt sich der steile Waldhang, unten am Ufer steht ein blatt- und rindenloser Baum, dessen Silhouette gleichmäßig belaubt ist mit kleinen Vögeln. Der Deich ist frisch gemäht, einige schnelle Blümchen haben ihre kleinen Sonnen schon wieder herausgearbeitet. Hinten zwischen den Heurollen stakst ein satter Storch umher, gerade ohne Konkurrenz und etwas unmotiviert. Weit oben kreist tiefenentspannt und unbewegt ein Raubvogel mit großer Spannweite und kurzem Heck.
Bald sehen wir Zaton Dolna und die Terrasse der Genüsse und staunen aufs Neue, wie weit oben die Kirche über allem steht. Kurz darauf ist das funktionale Fachwerkgebäude Eishaus erreicht, und am Rastplatz dahinter geht es nun endlich in die weiten Oderauen. Ein klassischer Plattenweg läuft mit bunten Wiesenrändern durch das üppige Grün aus Weiden, Wiesen und ungenutzten Flächen, schlägt hübsche Bögen und weite Biegen und lässt dabei nur selten eine der unzähligen Wasserflächen sehen, die überall die Auen durchziehen.
So wie auf dem Hinweg der Dammgraben, begleitet nun der Alte Oderstrom von hier bis an den Rand von Schwedt den Verlauf des Weges und wird in Richtung Norden immer breiter. Andere Gewässer heißen Kuhlen Dümpel, Lubitz Rehne oder Ribbe und lassen die Antwort darauf offen. Wege zweigen ab nach Criewen, Zützen oder Meyenburg, dazwischen grasen Kühe in verschiedenen Farbtönen, die uns teils verständnislos anstarren. Im Hintergrund flitzen behende riesige Traktoren über die Äcker und verwandeln abgelagertes Heu in diese kleidsamen Rollen, denen der späte Sonnenstand zu baumeslangen Schatten verhilft. Abends in den Oderauen – das hatten wir noch nie, und so kommen die müden Beine und der lustbetonte Genuss dieser spätsommerlichen Stimmung voll kleiner Sensationen miteinander ins Gerangel, welches Tempo nun das rechte sei. Eine Einigung wird nicht erzielt.
Langsam prägen sich die fernen Dächer von Schwedt zu Einzelheiten aus, lassen sich Gebäude erkennen und Beziehungen zuordnen. Der Wasserturm, der spitze Kirchturm und die gläserne Kuppel des Theaters werden immer konkreter, bis schließlich der Deich oberhalb der Wasserstraße erreicht ist, die Stadt jetzt direkt gegenüber liegt. Ein tüchtiger Traktor mit Heurollen-Erzeuger eilt zu seinem letzten Einsatz, bevor das nahende Gewitter den verdienten Feierabend vorschreibt.
An der letzten Brücke dürfen die Kräfte nun endlich nachlassen. Wir werfen Gepäck ab und flanieren mit leichten Schultern durch die schöne kleine Altstadt zur Neustadt, staunen über die erwähnten haushohen Wandbilder und manches andere, bevor die Magistrale direkt zu den Uckermärkischen Bühnen zieht, hinter denen ein kleiner Biergarten wartet. Beim Vorbeigehen zeigt sich, dass sowohl die Glaskuppel auf dem Dach als auch die lebengroßen Figuren in den Nischen aufgemalt und nicht dreidimensional sind, das ist eindrucksvoll.
Im Biergarten bekommen wir nun den erhofften Nachschub an Mineralien, sonstigen Salzen und Flüssigkeit. Dazu gibt es die Geräuschkulisse des himmelfrei aufgeführten Musicals um einen grünen Oger, und schließlich gehen noch die ersten Laternen an und die Lichter der Statuen, passend zum Sinken der Sonne. Gut eine Stunde später zucken über dem finsteren Berlin die Wetterleuchten auf, jedes breiter als die ganze Stadt, schenken dem Fernsehturm die ganz große Bühne und überlassen bald den Fluten ihren Platz, die in großen Tropfen allen Boden tränken. Dieser Tag ist bereits jetzt Legende.
Anfahrt ÖPNV (von Berlin): von Berlin-Hbf. durchgehender Regionalexpress nach Schwedt, jede 2. Stunde nur mit Umstieg in Angermünde (jeweils gut 1,5 Std.)
Anfahrt Pkw (von Berlin): Autobahn bis Ausfahrt Joachimsthal, dann über Angermünde nach Schwedt (ca. 1,5 Std.)(wesentlich reizvoller ist die Landstraße über Biesenthal, Eberswalde und Chorin, Fahrzeit ca. 20 Min. länger)
Länge der Tour: 26 Kilometer (Abkürzungen vielfach möglich)(Wegpunkte und Kartendarstellung sind auf gangbare Wege bereinigt)
Download der Wegpunkte
(mit rechter Maustaste anklicken/Speichern unter …)
Links:
Polnische Seite zum Tal der Liebe (mit Geschichtsabriss)
Informationen zum Tal der Liebe mit Flyer
MOZ-Artikel zum Tal der Liebe von 2011
Einkehr: in Schwedt div. Möglichkeiten, ebenso in Krajnik Dolny
Café U Beaty (Bei Beata), Zaton Dolna (herzlich, gute Küche)
Wiejski kocur (Dorfkater), Zaton Dolna
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Ich konnte die Strecke genau verfolgen. Ich sehe sehr viel Schönheit in dieser Wanderung aber die Ausmalung des Berichts, hat selbst mich erstaunt und ich finde es schön, wenn jemand so viel Begeisterung für diese Ecke empfindet. Vielleicht suchst du auch einmal den Weg nach Norden aus Schwedt für eine Folgewanderung.
Mit Wandergrüßen