Der September ist da in allen Dingen und hat den kleinen Herbst schon an der Hand. In wolkengedämpften Landschaften ohne viel Kontrast und Schärfe leuchten jetzt vor allem wogende Felder von Goldrute, doch auch knallig glänzende Vogelbeeren oder Hagebutten, letztere wie gewachst und aufpoliert. Wer nah genug rangeht, kann sich wahrhaftig darin spiegeln.
Dazwischen huschen wie nach einem Klingelstreich kleine Vögel von einem Busch zum nächsten, Finken sicherlich, und tragen davon abgesehen zum großen Schnabelschweigen bei, was die höheren Frequenzen betrifft. Die großen Schwarzen mit den wuchtigen Meißeln im Gesicht holen sich die Klangbühne zurück, ein wenig mehr von Tag zu Tag. Spaziergänger ziehen jetzt gern schon mal den Reißverschluss bis hoch ans Kinn, und auch manche Haarpracht verschwindet zeitweise unter dünnem Stoff oder Gestrick.
Ganz hinten oder einiges weiter oben ziehen die Größten hin und her, noch nicht auf dem Interkontinentalflug, doch schon in Orientierung darauf. Drei Gänse über der Havel machen Lärm für eine ganze Schar, und auch die Kraniche vom überübernächsten Feld sind locker bis hierher zu hören. Die meisten Storchennester hingegen liegen bereits verlassen auf ihren Schornsteinen, Masten oder sonstigen Stallagen.
Ebenfalls für Farbakzente sorgen im fahlbunten Kronenlaub knackige Äpfel und saftige Pflaumen sowie würzige Holunderdolden in tiefschwarzem Blau. Zu klein und hart zum sofortigen Vernaschen hingegen sind die Birnen, doch wer sie zu Hause etwas liegen lässt, wird mit geschmacklicher Ausdruckskraft belohnt. Die Walnussbäume hängen voll von extragroßen Früchten, dick und grün verpackt. Dasselbe gilt für die Kastanien, auf deren edlen Mahagoni-Glanz am Boden noch zu warten ist. Alles zusammen ergibt mit regelmäßigen Himmelstropfen und zeitig gefallenem Laub eine Würze in der leicht bewegten Luft, die für gewöhnlich erst Ende des Monats erreicht wird.
Nach scheinbar langer Brandenburg-Abstinenz soll heute am besten alles dabei sein, was eine Tagesrunde rund macht. Rückenwind bei der Suche kommt per Zufall – quasi über Bande wird mir eine der allerneuesten Broschüren vom Havelland vor die Nase geworfen, die unter der Feder des dicht benachbarten Blogs Wanderjenosse entstand, einem seit Februar bekannten Gesicht. Alles passt – wir waren lange nicht in der Gegend, dort gibt es Brandenburg satt, und ein paar Pfadverbindungen mit Fragezeichen haben diese dank der Broschüre verloren. Allzu lang ist die Anfahrt auch nicht, und eine Fährfahrt ließe sich vielleicht auch noch einflechten. Die wandelhafte Havel setzt sich jedenfalls auf dem Weg nach Deetz mehrfach in Szene und perfektioniert das schließlich etwa auf der Mitte der Tour. Und übrigens: auch fern ihrer Uferlinie spaziert man unterwegs am Havelwasser.
Deetz
Deetz ist ein hübsches, beschauliches Dorf zu Füßen des Eichelberges, das von zwei grundverschiedenen Landschaften eingerahmt wird. Der Aufstieg und die Pfade auf dem Haupt- und Nebengipfel erinnern bei etwas Wohlwollen an sächsisches Elbland, während die flachen Wiesen am Havelbogen ganz klar nordisches Flair verströmen, mit Deichen und Schafen, Pumphäuschen, Entwässerungsgräben – und manch kleinem Strand. Auch der Stufengiebel der Kirche schlägt in diese Kerbe, insbesondere wenn man vom Fluss her kommt.
Nach dem Aufstieg durch eine gemütliche Dorfstraße hat man vom westlichen Nebengipfel schon nach einer Viertelstunde die erste große Aussicht über den geschwungenen Lauf des Havelstroms, davor das Dächermeer des Dorfes. Kurz vorher beginnen die ersten Wiesenpfade, die über eine kleine Bergheide zum kurzen, steilen Schleich hinauf zum Plateau führen. Der ist mit seinem Mühlstein-Feuerplatz wie geschaffen zum Feiern schöner Feste oder für erhebende Sylvester-Blicke übers Land, genau so auch für eine simple Pause. Der trübe Tag setzt dem Blick zwar Grenzen, doch liegen diese so weit entfernt, dass Details dort ohnehin nur mittels Linsenoptik zu erkennen wären.
Der gemäßigte Abstieg nimmt in einer Wendel eine lange Fliedergasse, die im Mai eine kleine Sensation bieten sollte. Die letzten Meter vor der Straße begleitet eine gestandene Mauer, die wieder kurz an Weinbaugegend denken lässt. Gleich gegenüber steht eins der elegantesten Häuser des Ortes, ein bisschen wie die eingedampfte Sommer-Residenz eines Blaublüters von untergeordnetem Rang.
Kurz darauf an der Gabelung werden Hockstrecksprünge unterm Apfelbaum direkt belohnt. Handlich sind die Äpfel, dabei saftig süß mit etwas Würze. Voraus ist überm bewaldeten Berg schon der hoch empor ragende Aussichtsturm zu sehen, der gekonnt eine geodätische Messmarke zitiert, einen trigonometrischen Punkt des hiesigen Netzes. Ein kräftiger Schauer zieht für eine Apfellänge seinen grauen Vorhang auf, ein moderater zweiter tut das wenig später.
Erdelöcher
Nach wohlgefällig zwischen Waldhang und Wiesenland gelegenen Grundstücken folgt ein ruhiger Weg, der ein paar gut gefüllte Gräben quert und schließlich zu einem herrlichen Geknäuel von Pfaden führt, wie man es so schön nur selten trifft. Zwischen Dutzenden kleiner und größerer Teiche quetschen sie sich lang, mal auf schmalem Damm, dann mal etwas breiter. Nicht nur von Mildenberg, von Norden her, hat die Havel mit Ziegelei und Brennofen zu tun. Auch im Südosten gab es diesen Industriezweig, dessen Spuren zwischen Deetz und Götzer Berge mittlerweile zum Großteil mit der Natur verschmolzen sind. Was in Mildenberg Tonstich heißt und in Klausdorf Tongruben, ist hier als „Erdelöcher“ ausgeschildert. Und von gänzlich anderer Gestalt als da und dort.
Viele Angler haben schon die begehrtesten Stellen belegt. Einige schauen argwöhnisch, wer da sinnlos Schritte in den Boden drückt, doch wir sind leise wie die Katzenpfoten und unterbrechen auch die Plauderei, wenn sie grad läuft. Junge und alte, bunte und tarnfarbene, verbissene, miesgelaunte und entspannte Rutenträger sind dabei. Einige seit dem Morgengrauen, andere per Zelt schon über Nacht. Andere haben wohl erst dick gefrühstückt, dann etwas getrödelt und versuchen nun kurz vor der frühesten Mittagsstunde, noch ein passables Plätzchen fürs Auswerfen zu finden. Wir drücken den Geschuppten die Daumen, ein bisschen auch den Anglern, dass sie Herd und Pfanne nicht umsonst mitgeschleppt haben.
Die erwähnten Stellen mit den Fragezeichen gestatten dank kurzer Stege hilfreiche Verbindungen. Dazwischen schlängelt sich der Weg meist als Pfad über die Dämme zwischen den Teichen, mal so breit wie ein Otto-Normal-Hintern, mal etwas ausgelatschter wie der eines Brauerei-Pferdes. Bänke für ein Päuschen gibt es keine, doch einige der kleinen Stege von Festland zu Festland sind geländerlos und erlauben obendrein noch Beinebaumeln selbst für längste Schenkel.
Das schnellste und lauteste in diesem Minuten ist ein aufwändig hechelnder Jogger, der erstaunlicherweise kaum vom Fleck kommt trotz all des Theaters – so ein bisschen wie Meister Jackson beim Moonwalk, nur lang nicht so geschmeidig. Irgendwann ist das Knallrot dann verschwunden und die Ruhe über den leicht dunstigen Teichen wiederhergestellt. Zwei dekorative Schwäne in einem Teich hinterm Teich atmen auf, schütteln langsam die edlen Häupter und schwimmen mit aristokratischem Gebaren weiter ihre Bahnen .
Götzer Berge
Der Weg wird breiter und mündet bald ins Sträßchen nach Götzer Berge, ebenfalls ein hübsches Dorf am Fuß eines Berges. Der Anstieg durch den Wald, der nach feuchtem Moosboden und Nadeln duftet, folgt zuletzt einem nadelweichen Schlingerpfad mit kleinen Heidekraut-Inseln und knackt an dessen Ende die Hunderter-Marke. Mit dem äußerst stabilen Turm lässt sich noch deutlich einer draufsetzen – wer nach vielen vielen Stufen die Aussichtsplattform erreicht hat, steht nun im schnellsten Wind des Tages hundertfünfundreißig Meter über Normalnull. Extremsportler, welche todesverachtend die wirklich spitze Spitze erklömmen, könnten sogar mit der Zahl hundertzweiundfünfzig prahlen. Doch wäre das Verhältnis von Risiko und Bewundertwerden eher dürftig.
Götzer Berg
Wer ausreichend windfest ist und schließlich stämmig auf der Plattform steht, darf staunen, wieviel seenbreites Havelwasser nun geboten wird und wieviel Weite. Nur die wenigsten werden so beherrscht sein, hier nicht die Panorama-Funktion der Kamera zu bemühen, denn es ist wirklich eindrucksvoll, selbst im permanenten Dämmerlicht dieses Tages. Was uns schließlich das Losreißen erleichtert ist der frische Wind, der weit und breit durch nichts gebremst wird. Den Turm lässt das absolut kalt, nichts schwankt oder schwingt oder vibriert. Doch wir haben schon sämtliche Zwiebelschichten an und treppeln also hinab in den schützenden Wald.
Absteigen lässt sich gemütlich und leicht federnd oder sehr direkt mit entsprechender Gangart im weichen Stakkato. Wieder im Dorf lädt die Bibliothek nicht nur wegen ihrer großen Bücherregale ein, sondern auch durch den großen, nach hinten durchschaubaren Raum, der nach ehemaligen Festsaal einer Gaststätte bzw. Dorfbums aussieht, wie es der Volksmund kürzer fassen würde.
Gleich folgt ein Nachschlag im Teichgebiet der Erdelöcher, der sich wahlweise auf bekannten Weg erreichen lässt oder über einen per Pinselschrift ausgewiesenen Privatweg, der gleich noch eine kleine Sehenswürdigkeit mitnimmt. Etwas nördlich vom Rosenbergerhof führt er zu einem Seitenhäfchen mit besonders schön gelegenen Wochenendgrundstücken. Uns entgegen kommen zwei Frauen, handtuchgekleidet in dem Stil, wie man eine Sauna verlässt. Beide lächeln, die vordere wie eine zu selten besuchte Tante, die hintere wie eine geballte Faust. Die Luft zwischen beiden scheint aufgeladen.
Die erwähnte Sehenswürdigkeit ist dann wieder grundfriedlich, so unauffällig und zudem von pittoresker Szenerie umgeben, dass man sie leicht übersehen kann. Eine kleine halbhistorische Drehbrücke führt über einen spreewaldschönen Stichkanal aus der Zeit der Ziegeleien und ermöglicht die kürzeste Verbindung zwischen Götzer Berge und Deetz. Dahinter schlängelt sich der leicht erhabene Pfad durch üppiges Urwald-Dickicht aus hohen Bäumen, Lianentrieben und Hopfengebilden, die stellenweise prächtige Tunnel ausbilden. Ausgeworfen werden wir fast profan auf das stille Asphaltband des Havel-Radweges, der gut genutzt wird.
Ein kurzer Abstecher nach rechts führt zu einem kleinen Sandstrand, der nun die Kluft der Mädels erklärt. Ein Kopf schwimmt herum, aus dem noch vor dem Blickkontakt mit sonorer Stadtführer-Stimme Worte an uns gerichtet werden. Diese sollen in Sekundenfrist eine wohlwollende persönliche Verbindung herstellen, damit wir gar nicht erst auf die Idee kommen, seine Sachen ins Wasser zu werfen. Ein bisschen liegen dann auch Laszivität und freundliche Lüsternheit in seinem Timbre – eine geschickte Gesamttaktik, denn so kommen eher wir in die Lage, die Situation besser zu verlassen, bevor sich der tatsächliche Entkleidungsgrad klärt. Er lobt das Wasser und lädt ein, ich kleinplaudere, dass Luft- und Wassertemperatur fast identisch sein dürften, heute bei uns kein Bad auf dem Zettel steht. Dann nehmen wir Abschied und wünschen Gutes für den Rest des Tages.
Rechts zum Teich hin stehen dicke Holzgeländer in bester Aufstützhöhe. Jedes der Erdelöcher liegt still, und jedes von ihnen hat einen Namen. Der alte Havelarm links des Weges heißt Ziegeleikanal und ist direkt mit dem Fluss verbunden, was die zahlreichen Bootsstege erklärt. Vor einer Benimmse trainierenden Klasse der örtlichen Hundeschule biegen wir am Parkplatz links ab und bleiben dem Kanal somit treu, der rings herum vom eigenen Wasserreich umgeben ist. Dieses ließe sich per Stichpfad erkunden, doch das fällt heute aus, denn der Magen knurrt schon und Besteckklappern war vorhin auf Schildern angekündigt.
Havelstübchen
Direkt am Radweg liegt mit großem Schankgarten die erhoffte Wirtschaft, wo sich jetzt Bedürfnisse stillen lassen. In der knappen Stunde fallen ein paar Tropfen, ähnlich viele Radfahrer kommen und gehen. Wortreiche Platzfindungen in mindestens drei Dialekten und Artikulations-Graden lassen sich beobachten, danach zufriedene Gesichter in der Pedal-Pause. Eine will Kaffe und Kuchen, ein anderer nur sein kühles Bier und seine Ruhe, ganz hinten jemand die leuchtend orangene Kürbissuppe mit einer hausgemachten Limo. Die Bedienung hat zu tun.
Alle nächsten Stichwege zur Havel geben sich zugeknöpft, ein anderer haut während der Vegetationsphase nicht hin, also tippeln wir weiter auf dem Sträßchen nach Deetz. Währenddessen legt die Landschaft ihre Verwandlung ins Nordische hin, mehr noch nach dem havelstrebigen Abbiegen entlang einer Häuserreihe. Einige Pferde stehen da wie Models, engagiert erstarrt in ansprechender Pose, und fokussieren regelrecht die Kamera, die wir gar nicht hinhalten. Neben dem elegant-grazilen Kamera-Liebling post lässig ein durchtrainierter Grunge-Typ mit weiten Stiefeln, schaut leicht provokant mit gerecktem Kinn herüber und wartet lange – bis ich tatsächlich die Knipse draußen habe, nur um im selben Augenblick wieder dazustehen wie irgendein grasenden Pferd.
Vorn am Strand wurde ein bisschen auf Küste dekoriert, so mit aufgebockten Bojen, mikadowurffertigen Reusenstangen und einem wettergegerbten Bootsschuppen. Links und rechts des Sandes stehen eine Sonnen- und eine Schattenbank vis-á-vis, dazwischen scheucht der Wind hindurch, so schnell wie vorhin auf dem Turm, doch lange nicht so kalt. Zwei dennoch durchfrostete Radfahrer brechen gerade auf.
Die Nord-Optik wird weiter verfeinert, jetzt kommen der Deich und das erwähnte Pump-Häuschen ins Spiel, schon bald darauf die Schafe. Die gibt es in weiß, schwarz und grau. Eins von den weißen wird dabei von einem schafsgroßen Hund verkörpert, der verschiedene Unerwünschtheiten abwehren soll. Aus der Ferne grollt er einmal kurz, sobald er uns wahrnimmt – nur um sein Kampfgewicht zu umreißen. Legt sich bald gemütlich hin und lässt uns schwenkenden Kopfes nicht aus den Augen, die Ohren hochgestellt wie ein werbendes Lama. Und zeigt dabei Uhu-Qualitäten, denn der Deich beschreibt einen ordentlichen Bogen. Doch er lagert seinen Körper nicht um.
Weitere Schafe an einem späteren Deich sind auf sich allein gestellt und scheinen allerhand Unfug im Schafskopf zu haben, so ohne aufsehendes Organ. Doch liegt gleich eine Siedlung um die Ecke. Voraus ist das sanfte Massiv der übergrünten Deponie zu sehen, formatfüllend. Gleich unterhalb verläuft der Havel-Radweg, wo sich vorgebeugte Regenjacken in zahlreichen Farben knapp über einem Schilfgürtel bewegen. Dahinter hockt dicht am Havelufer der Trebelberg mit teils garstigen Anstiegen, doch das ist eine andere Geschichte.
Früher als geplant biegen wir ab zur Kirche, da der direkte Weg entlang einer Baumreihe überzeugend lockt. Später übernehmen Kabelmasten die Begleitung, bis schließlich die Giebelzacken des Kirchturms klar erkennbar sind. Kurz vor der Kirche zitiert der Dorfbackofen noch einmal freundlich die Geschichte mit den Ziegeleien – in Form einer Pyramide aus Ziegelsteinen. Als Mittelpunkt von alljährlichen Dorffesten konnte er in diesem Jahr nur selten dienen, doch der Kaffeetreff Ende August konnte schließlich doch stattfinden. Zu den festen Terminen zählt übrigens auch ein Adventsmarkt, gerade mal eine Jahreszeit weiter …
Anfahrt ÖPNV (von Berlin): Regionalbahn nach Groß Kreutz, dann weiter mit dem Bus (nur Mo-Fr)(ca. 1,5 Std.)
Anfahrt Pkw (von Berlin): über Autobahn und/oder Landstraße (mehrere Mischungen möglich)(ca. 1,25 Std.)
Länge der Tour: ca. 13 km (Abkürzungen vielfach möglich)
Download der Wegpunkte
(mit rechter Maustaste anklicken/Speichern unter …)
Links:
Zeitzeuge der Erdelöcher (Artikel MOZ)
Einkehr: Havelstübchen, Am Havel-Radweg nördlich der Erdelöcher