Grobskizziert – Reitwein: Auenrupfer, Odersporn und die erlaufene Seelenruhe

Der September ist gut in Schwung gekommen, bringt an den meisten Tagen bereits diese anregende Mischung aus frischem Wind und kräftiger Sonne mit und hat schon viele der würzigen Düfte bereitgestellt, die sinnesfreudig den Herbst ankündigen. Unter den Bäumen raschelt erstes Laub, während im Buschwerk entlang der Wege verschiedenste Beeren eine Farbpalette öffnen, die auch dann noch leuchten wird, wenn einmal alle Blätter gefallen sind. Am beständigsten unter ihnen sind dabei die Hagebutten, die selbst noch unter Raureif und zartem Schnee mit aller Kraft und lackglänzender Haut hervorleuchten.

Grenzfluss Oder

Neben der Nase werden auch die Ohren auf die erdbunte Jahreszeit vorbereitet, wenn sich zwischen das klickende Geplauder der allerletzten Schwalben im ferneren Surround-Bereich schon das monotone Getöne von Krähen und Raben mischt, die bislang nur vereinzelte Silben aus ihren respektablen Schnäbeln pressen. Oder weiter im Hintergrund die Scharen von Kranichen fast nur zu erahnen sind, die später am Tag kurz vor dem schwindenden Licht von der Kost zur Logie umziehen werden. Hier und dort schon kilometerlange Gänse-Einsen für den anstehenden Langstreckenflug üben.

Uferstreifen der Oder gen Lebus

Wer hier nicht seinen ersten Text liest, weiß vielleicht bereits von der besonderen Zuneigung des Autors zur Oder, die Euphorie und Ehrfurcht zu gleichen Teilen verschmilzt und für eine genießerische Niedrigdosierung der odernahen Ausflüge sorgt. Bevorzugt sind es die kalten bis bitterkalten Tage, die besonders gut zu den Landschaften dieses Grenzflusses passen, zum Wilden und scheinbar Unbekannten, was sich dahinter bis hin zum Ural aufspannt.

Schöne Aussicht bei Reitwein

Ganz unabhängig von den Jahreszeiten passieren manchmal im Leben kleine oder auch große Wunder. Wenn dann die nächste Möglichkeit für einen Tag unter freiem Himmel kommt, empfiehlt sich eine Landschaft, die vertraut ist, einen wohlig umfängt und etwas Archaisches in sich trägt. Auch lange Wege bietet und Weite in fast alle Richtungen, so dass ausgiebig erzählt und auch geschwiegen werden kann. Ein breiter und ruhiger Fluss ist dabei nicht von Schaden oder auch ein ferner Blickfang, der sich leicht rätselhaft gibt.

Doch auch der sommerspäte Frühherbst ist eine gute Oderzeit, wenn alles oben Erwähnte am selben Ort zu beobachten ist und dazwischen die schokoladenschwarzen Ackerschollen liegen, von großer Pflugschar aufgebrochen und dabei sauber eingerahmt durch schnurgerade Wege.

Im offenen Schiff der Reitweiner Kirche

Reitwein

Das Oderbruch ist bekannt dafür, ganz außerordentlich flach zu sein, wird dem Begriff topfeben wirklich gerecht. An vielen Stellen erhebt sich jedoch sehr direkt und nicht zu übersehen eine ausdrucksvolle Geländekante, die für teils unwiderstehliche Kontraste sorgt und unruhige Zeigefinger am Auslöser. Ein besonderer Dank hierfür geht an die letzte Eiszeit, wieder einmal.

Kirchturm in Reitwein

Bereits im Stadtgebiet von Frankfurt an der Oder beginnt einer dieser Höhenzüge, der über knappe zwanzig Kilometer vorbei am schönen Lebus bis hin zum Dorf Reitwein reicht. Schon vorher transformiert er sich von der Hochebene zum Sporn und läuft dann unvermittelt und direkt aus, was dafür sorgt, dass die Annäherung an ihn ein wenig wie die an eine hügelige Insel oder eine Voralpenlandschaft ist. Drumherum die absolute Flachheit. Es ist wirklich faszinierend.

Der Bullengraben bei Reitwein

Was der ganzen Szenerie zudem den Anstrich eines hochromantischen Gemäldes verleiht, ist die Reitweiner Kirche. Die steht eigentlich versteckt im unteren Hang, doch ihr spitzer Turm ist aus großer Ferne schon zu sehen und gibt einem das Gefühl, sich geradewegs in dieses Gemälde hineinzubegeben. Wer bei Regen nicht nass werden möchte, wird dort keinen Schutz finden. Wer jedoch Freude an naturgegebenen Lichtspielen auf schöner Architektur hat, sollte den kleinen Abstecher nicht versäumen. Den Entwurf für die Kirche lieferte übrigens ein Herr Stüler, der zur Architekten-Prominenz seiner Zeit zählte – auch das Neue Museum in Berlin geht auf seine Kappe. Der Baumeister Stüler war übrigens ein Schüler Schinkels, der hier schon viel zu lang nicht mehr Erwähnung fand.

Einladender Weg durch die Oderauen

Reitwein selbst ist ein hübsches Dorf von angenehmer Unregelmäßigkeit, zudem gibt es noch einige von diesen schönen Schleichwegen, die auf Wiesenteppich oder als getrampelter Pfad die stillen Straßen verbinden und im Langzeitgedächtnis eines jeden Reitweiner Kindes verankert sein dürften.

In den Oderauen

Gegenüber der Kirche liegt eine eindrucksvolle Sowjetische Kriegsgräberstätte, die Gedanken an die erbitterten Kämpfe in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges wachhält, als nichts in dieser Landschaft friedlich war und ihr Gesicht zerschnitten. Als grundfriedliches Gegenstück dazu liegt gleich links benachbart ein kleiner Sommer- und Kräutergarten mit winziger Teichpfütze, der betreten werden darf und gleichermaßen Insekten oder Erholungssuchende bedient.

Die breite Oder

Die ausgedehnte Tour mit ihren vielen langen und landschaftsschwelgerischen Passagen findet sich genau so auch in einem blauen Brandenburg-Wanderführer. Sie vereint in sich eine ganze Handvoll Kapitel, deren jedes für sich seinen Charakter trägt und die man alle paar Jahre aufs Neue lesen möchte. Den Auftakt macht der umgehend pulssenkende Weg durch die inneren Oderauen, der vorbei an einer hinreißenden Rastbank mit Dorfblick und durch einen bruchklammen Grünzug zum großen Oderdeich führt. In Vertretung der Alten Oder, die einst weiter östlich ihre Bögen schlug, sorgt hier der Bullengraben für etwas fließendes Wasser, das von mehreren Stellen rund um Lebus daherkommt.

Was so wächst in den Auen

Hinter dem Deich öffnen sich die äußeren Oderauen mit ihrem urwüchsigen Erscheinungsbild. Die Oder ist von hier aus noch nicht zu sehen, doch hinter ihrem gedachten Verlauf geht bereits ein polnisches Panorama der Extraklasse in die Breite, das den Deich gewissermaßen zu einem endlosen Aussichtspunkt macht und irgendwo in der nahen Ferne als rätselhaften Blickfang eine glänzende Turmhaube durchscheinen lässt.

Auf Knöchelhöhe am Oderstrand

An diesem Streifen zwischen Deich und Oderufer wird man sich wohl niemals sattsehen können. In verspielter und natürlicher Unregelmäßigkeit ziehen sich einladende Wegespuren hindurch zwischen gekappten Altarmen und feuchten Wiesen, gestürzten und zugleich quicklebendigen Weiden oder kleinen Wäldchen, die sich von keiner der vergangenen Fluten haben unterkriegen lassen. Blasshäutige Baumruinen steuern eindrückliche Skulpturen zu diesem Ensemble bei. Dazwischen lassen die jagenden Wolken jede sichtbare Wasserfläche in Sekundenschnelle zwischen bleigrau, edelsilber und tiefblau wechseln, so dass die Auslöseverzögerung der Kamera für Grimm sorgen könnte – wenn man nicht so versunken wäre in dieses Landschaftsbild, zu dem man hier gerade selbst gehört.

Genügsame Pflänzchen

Weitere Accessoires, die das Unsteigerbare dennoch steigern, sind vereinzelte Strohrollen ohne Ablagesystem, in denen man ruhig einmal seine Nase vergraben sollte und tief einatmen, auch Weidezäune alter Schule oder die mit lustigen Ziegen durchmischten Schafherden, welche in diesen Wochen vielfach zu entdecken sind. Auch die Wolken tragen ihren Teil dazu bei, mal als brave Schafe, mal wild zerzupft oder gewagt ineinandergeschachtelt. Die Chancen für solche Himmelsbilder stehen an der Oder gut, wie die Erfahrung langer Jahre zeigt. Nicht zuletzt steuern die farbstarken Grenzpfeiler in regelmäßigen Abständen kleidsame Ergänzungen bei.

Uferstreifen der Oder

Neben den feuchten Stellen, Senken und Weihern gibt es auch einige streusandtrockene Stücke am Weg, die mittels wettergegerbter Holzplanken, vielleicht alte Eisenbahnschwellen, das Vorwärtskommen für Sohle und Reifen gewährleisten. Aus ihren Ritzen sprießen stillvernügt genügsame Blümchen.

Oderdeich mit Himmelsspiel

Wenn schließlich das Ufer der ruhig fließenden Oder erreicht ist, sollte man sich eine Rast auf einem dieser Zacken nicht entgehen lassen, die weit in den Fluss ragen. Es ist ein besonderes Gefühl, so ein bisschen mitten im breiten Fluss zu sitzen, bequeme Stellen gibt es fast immer. Nicht zuletzt kann es auch im späten Sommer angenehm sein, an einem dieser tausend Odersträndchen vollständig unterzutauchen, nur für ein paar Züge. Oder sich am gewählten Sitzplatz einfach nach hinten umfallen zulassen, mit geschlossenen Augen in den Himmel zu stieren und das leise Plätschern zu erlauschen, mit dem die klaren Flusswellen die äußersten Schotterbrocken umspülen. Man sollte es wirklich tun.

Schafherde nahe des Flusses

Aus dieser flachen Perspektive wirkt der Oderstrom zudem besonders breit und auch besonders blau. Schwierig ist es daher nur, sich wieder loszureißen, denn die Tour hat ja an dieser Stelle erst begonnen.

Schokoladenacker im Zustieg

Oderdeich

Auf Höhe des alten Fähranlegers beginnt das nächste Kapitel, das nun eine reichliche Stunde Autopilot gestattet, wenn gewünscht. Einfach die Füße machen lassen, die Gedanken fließen oder fliegen, und die Blicke schweifen. Der Oderdeich verläuft hier niemals schnurgerade, und hinter jedem Bogen gibt es neue Bilder, die sich nur selten ähneln. Mal kommt das lange Band der Oder in den Blick, mal eine der vielen kleinen Wasserflächen, die dem Deich zu Füßen liegen. Hier ist die Wiese struppig kurz, dort dann alles lückenlos bewachsen von hohen Gräsern oder auch Schilfteppichen. Und als kleine Kuriosität stehen immer wieder diese Durchfahrt-verboten-Schilder an Stellen, wo ohnehin niemals ein handelsübliches Kraftfahrzeug hinkommen oder weiterfahren könnte.

Aufstieg nach Wuhden

Rechtzeitig vor Lebus muss man sich losreißen und mal wieder auf das Display oder die Karte schauen, sonst würde man unversehens in Lebus landen – zwar auch sehr schön, doch fernab der restlichen Kapitel, dazu noch ein ganz eigenes. Ein paar rechtwinklige Abbiegungen begleiten den Weg durch die Felder hinüber zum unteren Rand der bewaldeten Höhenkante, die womöglich ein paar Mittelgebirgsassoziationen im Hinterkopf aufruft. Vereinzelte Gehöfte wurden liebevoll gestaltet, und am Abzweig, wo die Abkürzung hinzustößt, hockt ein versteinerter Troll, den wohl die Eiszeit von Skandinavien hierher verschlagen hat.

Ausblick von Wuhden

Wuhden

Nur wenig später geht es nun kurz und herzlich zur Sache, doch der Aufstieg an den Rand von Wuhden darf gut und gern ein eigenes kleines Kapitel für sich beanspruchen. Wer auf der Straße bleibt, kann oben im Dorf ein paar der hübschen Häuser sehen, doch zweigt man unten ab in den Weg mit schwarzem Kauz auf gelben Grund, darf die Höhe entlang eines idyllischen Grundes erklommen werden.

Weg auf dem Reitweiner Sporn

Oben beginnt dann, fast wie auf einem Kammweg, der nächste, äußerst aussichtsreiche Abschnitt entlang einer jungen Allee, die später in einer deutlich älteren aufgeht. Die beruhigende Spur ist immer leicht am Schlingern und taucht nach längerem in den Wald ab, wo der verdiente Abstieg nun genüsslich zelebriert wird.

Schöne Aussicht bei Reitwein

Noch in diesem abschließenden Kapitel sollte man sich trotz müder Beine und hängenden Magens nicht eine der schönsten Aussichten weit und breit entgehen lassen – der Abstecher ist nur kurz und endet an drei Bänken. Ähnlich frei und hochgelegen wie von der Schönen Aussicht kann man den Blick wohl nur von der Carlsburg bei Falkenhagen schweifen lassen – und ist dabei mit Sicherheit niemals ungestört.

Hohlweg hinab nach Reitwein

Wenn es wirklich Herbst ist und der Tag schon eine Weile läuft, wirft der Sporn seinen Schatten weit ins flache Land, wie ein altgedienter Fischer seine Netze, die in voller Breite auf die Wasserfläche klatschen. Die Bäume entlang der schnurgeraden Alleen tun das ihre, und der tiefe Sonnenstand steuert Goldlack und Weichzeichner bei. Auch der frische Wind hat sich woanders hin verzogen und überlässt die Landschaft gänzlich ihrer Stille, die Oder ihrem glatten blauen Spiegel und die tagaktiven Menschlein einer abendlichen Seelenruhe.











Anfahrt ÖPNV (von Berlin): mit der Regionalbahn nach Seelow, von dort mit Bus bzw. Bussen (1,75-2,5 Std.)

Anfahrt Pkw (von Berlin): auf der B 1 bis Manschnow, dann B 112 Richtung Lebus (ca. 1,75-2 Std.)

Länge der Tour: ca. 21 km, Abkürzungen möglich (Empfehlung: wenn abkürzen, dann zwischen Wegpunkt 10 und 15)


Download der Wegpunkte
(mit rechter Maustaste anklicken/Speichern unter …)

Links:

Internetpräsenz von Reitwein

MOZ-Artikel Spaziergang Reitweiner Sporn

Einkehr: Gaststätte Am Reitweiner Sporn, Reitwein (vorher unbedingt anrufen, hat manchmal unerwartet geschlossen)

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3 Gedanken zu „Grobskizziert – Reitwein: Auenrupfer, Odersporn und die erlaufene Seelenruhe“

    1. Guten Tag Frau Kotte – das ist ja nun wirklich ein nachgerade zauberhafter Zufall … oder eben nicht. Steht auch der pförtnernde Schaukasten mit dem hervorragenden Informations-Material unter ihrer Obhut?

      1. Ja, das tut er. Die Gäste Reitweins nehmen das Angebot der Reisemagazine durch Brandenburg und die überzähligen Pflanzen aus dem Garten gern an. Beim nächsten Mal machen Sie sich gern bemerkbar, ein Kaffee ist immer schnell gebrüht.

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