Der kälteste April seit ziemlich lange hat sich vom Hof gemacht, und der frisch eingetroffene Mai gibt Anlass zur Hoffnung auf leichtere Oberkleider, denn es gab bisher ausschließlich Tage ohne Schneefall. Die Nachttemperaturen gewinnen nach und nach an Abstand zum Nullpunkt und lassen die Werderaner Obstbauern etwas ruhiger schlafen.
Betrübt sind sie trotzdem, denn die nächste Auflage des tradierten Baumblütenfestes musste erneut aufs kommende Jahr vertagt werden. In Werder soll sie ohnehin auf ein angenehmes Maß eingedampft werden, das keine bleibenden Schäden bei Einwohnern, Bausubstanz und Landschaft hinterlässt und letztlich Namen und Inhalt des Festes wieder näher zusammenbringt. Auch wenn es dann vielleicht nicht mehr das zweitgrößte Volksfest im Lande sein wird.
Obwohl der äußere Rahmen des Festes also komplett wegfällt, haben auf den Hochflächen westlich der Havelseen einige der alten Hasen und Urgesteine unter den Obstbauern einen kleinen bunten Stand aufgestellt. Die gewohnte Sortenvielfalt gibt es diesmal nicht aus bauchigen Ballonen, sondern vorabgefüllt in robuste Literflaschen.
Allerhand Publikum ist trotz des durchwachsenen Wetters unterwegs, meist per Rad, doch auch zu Fuß. Da es letztlich doch gnädiger ist als die Vorhersage, werden es von Stunde zu Stunde mehr. Die Fortbewegung ist meist flüssig, denn die Wegweiser des Panoramawegs Werderobst lassen sich auch nach zwei Glas Obstwein noch gut lesen. Die Buchstaben sind groß, der Kontrast gut gewählt.
Für den Genuss der farbintensivenTropfen sind derzeit etwas Phantasie und Vorbereitung gefragt, was ja mittlerweile und vorübergehend zum erweiterten Standard gehört. Konkret sind das stilvolle oder bestenfalls praktische Trinkgefäße, ein Satz minimalistische Sitzkissen sowie eine Gabel, mit der sich außer Suppe fast jegliche Art von Essen handhaben lässt. Dazu vielleicht noch ein schönes Stück Frankfurter Kranz oder Schokoladenkuchen im oberen Packbereich des Rucksacks. Wer richtig gut ist, hat schließlich noch dampfenden Kaffee in der Thermoskanne. Unterwegs treffen wir einige Radlergruppen, Familien und Spaziergänger, die sich gemütlich einrichten, dann tollen, spielen und kichern zwischen blühenden Bäumchen.
Unser erhofftes Tagesziele ist es, unter einem blühenden Apfelbaum zu sitzen, den charakteristischen Duft solcher Tage in den Plantagen zu genießen und dabei mehrere Sorten frisch gekauften Weines zu verkosten. Die erste Rast mit Erdbeerwein gibt es in einem Sprengsel der Glindower Alpen, tief im Tal und umgeben von steilen Flanken und Seeufern.
Rast Nummer zwei erfolgt immerhin schon am Rand einer Apfelplantage mit langen Reihen kleiner, doch kronenloser Bäume, die ineinander übergehen. Bei No. 3 findet dann alles Gute zusammen – der Duft nach Erde, Schlauchgummi und Blüten, ein bekrontes Bäumchen von ausreichender Größe und ein taufrisches Fläschchen Holunderwein, das beim Öffnen noch beschlagen ist.
Klemmen wir uns also unter das Krönchen, strecken die Beine in den trockenen Boden und bestücken die Tafel mit allem, was die großen Jackentaschen und der Rucksack hergeben. Einen Steinwurf rechts quert der Weg, dahinter grasen pulssenkend zwei Pferde, das Fell in warmen Farbtönen und leicht aufgezottelt. Gegenüber trällert glasklar eine Nachtigall, während vorn am Weg ein Kerl vorbeischlendert, der ein Bruder von den Puhdys sein könnte. Ergraute Matte schulterlang, knollige Nase, freundliches Gesicht und leicht beschwingt.
„Ihr machtit richti‘!“ erwidert er unsere gehobene Grußhand der Zufriedenheit. „Wiejick früha imma war und noch keen eijenen Oopsjaatn hatte, da sind’wa ooch los, zwee Klappstühle, meene Frau unn’icke, denn schön unta‘n Baum mitte Decke, zwee Gläschen, een Fläschchen, nonne Schmalzstulle – und denn schön bei die Leute jewinkt. Wat soll’n da no’schöna sein? Richti‘ macht ihr ditt. Na viel Spaß noch denn!“
Recht hatter. Natürlich fehlen die brabbelnden Leute rund um einen, die Weinballone und die Biergartenbänke, auch Oma Traudels und Tante Petras Kuchen, die Bratwürste und Schmalzstullen, Honig, Marmeladen und Apfelbeutel. Und der weiße Staub, den die Blütenbusse oder das Cabrio der Blütenkönigin aufwirbeln, so langsam sie auch fahren. Doch mehr als genug für ein paar Schwälle von Glückshormonen ist es, hier vor Ort zu sein, an den Plantagen mit ihren Butterblumenwiesen vorbei zu spazieren, einige Leichtigkeit in den Gesichtern der Leute zu sehen – und vielleicht irgendwo ein Fläschchen zu bekommen und zu verkosten.
Erstmals und einmalig gibt es am Abend noch eine Fortsetzung des Tages im heimischen Wohnzimmer, denn Herzensfreunde haben zum Geburtstag eine Online-Verkostung von Obstweinen geschenkt. Die Idee ist eigentlich nur die Verlegenheitslösung eines blickigen Obstbauern und Whisky-Brenners, um nicht den Kontakt zur Kundschaft zu verlieren – doch die könnte es durchaus in kommende Jahre schaffen. Per Post kommt ein Päckchen mit sechs Fläschchen, dazu ein Termin mit Link zu einem Live-Stream sowie das Wissen, dass neben dem Micha und dem Opa, die den Abend erzählend, verkostend und Akkordeon spielend gestalten, noch eine ganze Reihe anderer Leute mit dabei sind und regelmäßig kichern und regelmäßig das Glas heben.
So gesehen gab es auch an diesem improvisierten Obstblüten-Tag eine bunte Vielfalt von Früchten, Farben und Geschmäckern, die allesamt so schmecken, als hätte letztes Jahr die Erde auf den Havelhöhen besonders viel von ihrer Würze ans Obst weitergereicht. Mal sehen, ob im Traum was davon vorkommt.
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Hallo Wegesammler, wie immer toll zu lesen. Geschriebenes berlinisch ist auch wieder mal erfrischend. Danke für die schönen Minuten